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Kind Missbrauch Maedchen traurig pixabay

Magdeburg-News: Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs in totalen Institutionen der DDR



veröffentlicht am Donnerstag, 6. Juli 2023

Angemessene Entschädigung, vereinfachte Archivrecherche und vertiefende wissenschaftliche Forschung waren die Forderungen bei einem Fachgespräch der Aufarbeitungskommission.

Magdeburg. Innerhalb des geschlossenen Systems der DDR existierten weitere geschlossene Systeme: In sogenannten totalen Institutionen, wie Spezialheimen, Jugendhäusern oder geschlossenen Venerologische Stationen, wurde sexueller Missbrauch auf Grundlage einer sozialistischen Ideologie und repressiven Erziehung ungehindert ausgeübt und verdeckt und war somit schrecklicher Alltag vieler Kinder und Jugendlicher.

Über die Folgen sexualisierter Gewalt an Mädchen und Jungen in den totalen Institutionen der DDR sowie über Aufarbeitung und Anerkennung von Unrecht hat sich die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs am 4. Juli mit Betroffenen sexualisierter Gewalt und weiteren Expertinnen und Experten aus Politik, Wissenschaft und Praxis im Rahmen eines Fachgesprächs in Magdeburg ausgetauscht. Die Veranstaltung fand mit Unterstützung der Beauftragten des Landes Sachsen-Anhalt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Birgit Neumann-Becker, statt.

„Insbesondere die Aufarbeitung der Gewalt in den geschlossenen Venerologischen Stationen der DDR steht noch ganz am Anfang“, stellt Dr. Christine Bergmann, Mitglied der Aufarbeitungskommission, fest. „Mädchen ab dem zwölften Lebensjahr und Frauen wurden dort zur Disziplinierung zwangseingewiesen unter dem Vorwand des Verdachts einer Geschlechtskrankheit. Einen medizinischen Grund für die Einweisung gab es selten – und damit auch keine Rechtsgrundlage. Die Mädchen und Frauen sollten zu sogenannten vollwertigen Mitgliedern der sozialistischen Gemeinschaft umerzogen werden. Dabei waren sie unter haftähnlichen Bedingungen massiven Repressionen ausgesetzt in Form von psychischer, physischer und sexualisierter Gewalt.“

Betroffene wie Angelika Börner, die mit fünfzehn Jahren in die Venerologische Station der Poliklinik Mitte in Halle zwangseingewiesen wurde und dort auch systematisch sexuellem Missbrauch ausgesetzt war, forderten beim Fachgespräch der Kommission eine angemessene Entschädigung für das erlittene Unrecht. „Wie ich kämpfen viele Betroffene noch heute mit den Folgen der Gewalt. Wenn man dann erfährt, dass man kaum oder gar keinen Anspruch auf Entschädigung hat, ist das ein weiteres Trauma, weil andere Menschen wieder über das eigene Leben bestimmen“, berichtet Angelika Börner.

„Die Politik muss Verantwortung übernehmen, um Betroffene sexuellen Kindesmissbrauchs in der DDR zu rehabilitieren und das Hilfesystem zu vereinfachen. Ein Hilfesystem, das seinen Namen verdient, weil es Betroffene tatsächlich unterstützt und nicht ausschließt“, so Dr. Christine Bergmann.

Betroffene und andere Expertinnen und Experten wiesen mehrfach darauf hin, dass Akten und Archive einen wesentlichen Beitrag zur individuellen Aufarbeitung, aber auch für die strafrechtliche Rehabilitierung leisten können. Für Betroffene muss der Zugang zu den Archiven und Akten erleichtert werden, damit sie Informationen über das an ihnen verübte Unrecht erhalten können. Die Aktenrecherche ist zudem häufig mit Kosten verbunden. Die Kommission setzt sich deshalb für ein gesetzlich verankertes Recht auf Aufarbeitung ein, welches auch ein Recht auf die eigene Akte sowie auf Beratung und Begleitung für die Recherche beinhaltet.

Einig waren die Kommission und ihre Gäste sich auch in dem Punkt, dass mehr wissenschaftliche Forschung nötig ist. Ein Ziel könnte sein, an den Universitäten und Hochschulen Lehrstühle für die Geschichte der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der DDR einzurichten. Es bedarf einer umfangreichen Studie zum Umgang des DDR-Staates mit Fällen sexuellen Kindesmissbrauchs auf Grundlage von Aktenmaterial, z.B. aus dem Stasiunterlagenarchiv (BStU) und dem Bundesarchiv.

Die Berichte betroffener Menschen sind die Basis für Aufarbeitung. Die Kommission möchte Betroffene aus der Region Sachsen-Anhalt, aber auch aus allen anderen Bundesländern ermutigen, sich bei ihr zu melden und ihre Geschichte zu erzählen – im Rahmen einer vertraulichen Anhörung oder in einem schriftlichen Bericht. Vertrauliche Anhörungen werden in den Regionen von den Anhörungsbeauftragten der Kommission durchgeführt und von einer psychosozialen Fachperson begleitet.

Das Fachgespräch in Magdeburg war das zweite in einer Veranstaltungsreihe der Kommission zu sexuellem Kindesmissbrauch in der DDR. Ab 2024 sollen weitere folgen, u.a. zum Kontext Familie, Kirchen und Menschen mit Beeinträchtigungen.


Text: Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs
Symbolfoto: pixabay