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Christian Lindner  Martin Rulsch  1

LINDNER-Interview: Jeder von ihnen könnte es besser als Frau Merkel

26. September 2018


Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner (Foto) gab „Focus Online“ (heute) das folgende Interview. Die Fragen stellte Margarete van Ackeren.


Frage: Die Abgeordneten der Union haben gegen Angela Merkels ausdrücklichen Wunsch Volker Kauder als Fraktionschef abgewählt, eine Mehrheit von ihnen hat Ralph Brinkhaus die Stimme gegeben. Hat Sie das überrascht?

Lindner: Tatsächlich war ich davon ausgegangen, dass die Unionsfraktion noch einmal Volker Kauder wählen wird – wenngleich zähneknirschend. Der Erfolg von Herrn Brinkhaus markiert eine Zäsur. Ich sehe zwei Signale: Ein Zeichen der Erneuerung und einen Hinweis darauf, dass die Ära Merkel zu Ende geht. Die Unionsfraktion hat erkannt, dass die Kanzlerin politisch erschöpft ist. Die Entscheidung weist bereits in die nächste Legislaturperiode. Damit eröffnen sich Möglichkeiten, inhaltlich getroffene Entscheidungen der Vergangenheit zu korrigieren.

Frage: Was muss jetzt passieren?

Lindner: Es muss wieder Führung hergestellt werden. Niemand kann Interesse an einer instabilen Regierung haben, die keiner Richtung folgt. Deshalb empfehle ich der Kanzlerin, im Bundestag die Vertrauensfrage zu stellen. Dadurch kann entweder Stabilität wiederhergestellt oder ein Führungswechsel eingeleitet werden.

Frage: Sie glauben, dass diejenigen, die gestern Merkels Personalvorschlag nicht gefolgt sind, ihr auch bei der Vertrauensfrage die Zustimmung verweigern, weil sie sie in Wahrheit nicht mehr als Kanzlerin wollen?

Lindner: Das weiß ich nicht. Aber das Stellen der Vertrauensfrage wäre der beste Weg, um klare Verhältnisse zu schaffen. Im Moment sieht es ja aus, als ob der Kanzlerin die eigene Fraktion entglitten ist. Sie selbst spricht von einer Niederlage. Sollte Frau Merkel nicht das Vertrauen ausgesprochen bekommen, gäbe es die Möglichkeit für einen politischen Neuanfang in Deutschland.

Frage: Wäre denn die FDP gerüstet für einen Bundestagswahlkampf?

Lindner: Wir sind jederzeit kampagnenfähig. Wir sind eine geschlossene Partei, wir wissen, was wir in der Sache wollen. Eine neue Regierung in Deutschland wäre eine Befreiung von einer echten Bürde. Denn unser Land ist besser als diese Regierung.

Frage: Über Wochen hielt die Personalie Maaßen die Republik in Atem. Haben Sie da manchmal gedacht: „Mit einer Regierung unter FDP-Beteiligung wäre das nicht passiert“?

Lindner: Nein, im Gegenteil. Wir sind ja Zeugen eines Abnutzungskonflikts zwischen Angela Merkel auf der einen und Horst Seehofer mit einer unkalkulierbaren CSU auf der anderen Seite. Die SPD gerät dabei zwischen die Fronten und wird aufgerieben. Da wäre nichts besser gewesen, wenn man sich auch noch mit Claudia Roth und Anton Hofreiter von den Grünen hätte streiten müssen.

Frage: Wenn die FDP die Regierung so hart angeht, kommt einem das ein bisschen so vor, als würde Mesut Özil die Fußball-Nationalmannschaft aburteilen: nicht mitspielen wollen, aber die, die es machen, kritisieren…

Lindner: Wer das glaubt, darf es verbreiten. Das trifft uns nicht. Und außerdem: Was ist das für ein Verständnis von Demokratie? Soll man ohne Einfluss in der Regierung alles mitmachen? Wir hätten in der Konstellation des Herbstes 2017 nicht annähernd das umsetzen können, was wir unseren Wählern versprochen haben. Natürlich darf man in der Opposition auf das hinweisen, was man in der Regierung nicht hätte verwirklichen können.

Frage: Aber Sie werden doch nie FDP pur machen können. Nach der Logik könnten Sie sich doch gleich der immerwährenden Opposition verschreiben.

Lindner: Das versuchen unsere Konkurrenten so zu streuen. Man kann nie alles durchsetzen, das ist völlig klar. Aber es gibt einen Unterschied zwischen einem nützlichen Idioten für ein im Kern schwarz-grünes Bündnis, der nichts gestalten darf und mit Ministerposten ruhiggestellt wird, und einer Partnerschaft, in der alle Beteiligten ihre Inhalte wiederfinden. In drei Ländern regieren wir, jeweils mit CDU, SPD oder Grünen zusammen. Auch in Hessen und Bayern sind wir zur Verantwortung bereit. Doch dafür müssen die Inhalte stimmen.

Frage: Sie glauben, nach Neuwahlen im Bund wäre die Lage dann aber so, dass die FDP wirklich mitgestalten könnte?

Lindner: Es verändert sich gerade viel in der CDU. Sie gibt sich ein neues Grundsatzprogramm. Und der Nachfolger oder die Nachfolgerin von Frau Merkel wird hoffentlich mit neuem Denken auch alte Fehlentscheidungen berichtigen. Bei den Grünen gibt es eine neue Parteiführung, die ebenfalls an einem neuen Grundsatzprogramm arbeitet. Wir sind gespannt, wohin das führen wird.

Frage: Sehen Sie bei den Grünen also einen Wandel?

Lindner: Nein, bisher nicht. Sie verfolgen eine unverändert linke Agenda. Sie wird nur etwas schriftstellerischer, im Stile von Robert Habeck, verpackt. Man muss abwarten, wie sich die Grünen im Einzelnen aufstellen werden.

Frage: Sie sagen „Frau Merkel hat fertig“. Könnte es nach Ihrer Einschätzung Annegret Kramp-Karrenbauer oder Jens Spahn besser?

Lindner: … oder die Ministerpräsidenten Armin Laschet oder Daniel Günther: Jeder von ihnen könnte es besser als Frau Merkel am Ende ihrer Amtszeit. Das liegt nicht an mangelnder Kompetenz von Frau Merkel, mangelnder Erfahrung oder charakterlicher Schwäche. Nach 13 Jahren ist es ein geläufiger Reflex zu erklären, dass man heute etwas nicht tun kann, weil man früher schon mal überprüft hat. Es ist die ewige Wiederkehr des Gleichen. Ein dauerhaftes „Und täglich grüßt das Murmeltier…“

Frage: … und Frau Merkel ist für Sie das Murmeltier?

Lindner: Wir sind jetzt Zeugen der Endphase der Ära Merkel.

Frage: Bringen wir es auf den Punkt: Die FDP setzt auf „Jamaika“ ohne Merkel?

Lindner: Wie auch immer die Mehrheitsverhältnisse nach Neuwahlen wären: Wenn die Inhalte stimmen, regieren wir gerne. In Rheinland-Pfalz tun wird das in einer „Ampel“-Koalition, in Nordrhein-Westfalen gibt es Schwarz-Gelb und in Schleswig-Holstein „Jamaika“.

Frage: Sie prangern oft an, diese Koalition behalte die Wähler mit Geldgeschenken bei Laune, wie die Karnevalisten, die Zuschauer mit Kamelle beglücken. Erkennen Sie nicht an, dass die Regierungen unter Merkel die wirtschaftlichen Grundlagen geschaffen haben, die ein Verteilen überhaupt möglich machen?

Lindner: Nein. Denn es sind die Menschen und die Wirtschaft, die viel geleistet haben. Die Koalition nutzt eine wirtschaftlich einmalige Lage, um sich Zustimmung zu kaufen. Die Leute lassen sich aber nicht beeindrucken von Baukindergeld. Die Mitte der Gesellschaft verdient eine wirkliche Entlastung. Im Moment ist es doch so: Die Rentenbeiträge sinken nicht, der Beitrag zu Arbeitslosenversicherung sinkt um denselben Anteil, um den die Pflegebeiträge steigen. Und gegen den Geist unserer Verfassung wird der Soli von dieser Regierung immer noch nicht für alle abgeschafft.

Frage: Es gibt ja zurzeit einen weit verbreiteten Politik-Frust, der offenbar nicht nur die Regierungsparteien trifft, sondern alle. Aktuell ordnen sich 31 Prozent als Nichtwähler ein. Wie kann die Politik gegensteuern?

Lindner: Hier sehe ich nicht nur eine Bringschuld der Politik. Da müssen sich auch die Bürgerinnen und Bürger angesprochen fühlen. Denn es geht auch um ihre Zukunft. Demokratie ist doch nicht, dass man auf der Zuschauertribüne verweilt. In diesen Zeiten ist politische Neutralität ein Luxus, den sich niemand leisten kann.

Frage: Ist Nichtwählen illegitim?

Lindner: Es geht um verantwortungsvolle Menschen – auch die Nichtwahl ist eine bewusste Entscheidung. Die muss man dann aber auch als Bürger verantworten. Beim Brexit haben wir gesehen, wohin Schlafwandlertum führt. Da haben viele gedacht, die Frage entscheide sich von allein. Sie sind zu Hause geblieben und am nächsten Morgen aufgewacht mit diesem Desaster. Als Vertreter der Partei der Eigenverantwortung sage ich: Jeder muss auch für sich selbst und für dieses Land Verantwortung übernehmen. Gerade jetzt.

Frage: Sie meinen: Gerade in Zeiten, in denen die AfD immer höhere Werte erzielt?

Lindner: Ich nehme Leute mit diesen Positionen ernst. Aber kann man wirklich eine Gesellschaftspolitik wollen wie in den 50er Jahren, inklusive Schuldrecht bei Scheidungen, wo dann einer der Partner ruiniert ist? Kann man wollen, dass die Europäische Union in diesen Zeiten zerbricht, so dass wir zum Spielball der Interessen von Moskau, Washington und Peking werden? Alleine sind wir zu klein.

Frage: Wie also wollen Sie mit der AfD umgehen?

Lindner: Der Umgang mit der AfD muss nüchterner werden. Man darf auch ihre Wähler nicht pauschal als Rassisten verunglimpfen.

Frage: Wenn Sie insgesamt auf die Performance der Großen Koalition in Berlin schauen …

Lindner: … welche Performance?

Frage: Wer trägt denn die Hauptverantwortung für das, was Sie als Nichtleistung wahrnehmen?

Lindner: Es ist die Konstellation. In besonderer Weise trägt natürlich die Chefin Verantwortung. Frau Merkel hat sich auf einen Beobachterposten zurückgezogen, obwohl sie eigentlich führen müsste. Gerade jährt sich die Sorbonne-Rede von Emmanuel Macron. Wo ist die deutsche Antwort?

Frage: Ihre Generalsekretärin Nicola Beer soll Spitzenkandidatin für die Europawahl werden. Es wird eine Wahl, bei der die entscheidenden Fronten simpel sein könnten: „Bist du für ein geeintes Europa oder dagegen?“ Wie stellt sich die FDP da auf?

Lindner: Es wird eine Schlacht werden, eine Richtungswahl für das ganze Jahrzehnt. Es geht darum, ob wir das europäische Einigungsprojekt weiterentwickeln, oder ob es abgewickelt wird. Ich glaube, dass wir die einzige proeuropäische Partei der Mitte sind. CDU und CSU unter Führung von Frau Merkel haben zu verantworten, dass Europa in der Migrationsfrage in Ost und West und in der Wirtschaftsfrage in Nord und Süd gespalten ist. Die andere proeuropäische Partei sind die Grünen, aber sie setzen auch in Europa auf Umverteilung und Steuerung. Sie treten also auch hier als linke Partei auf.

Frage: Ist die Union in Ihrer Sortierung also rechts oder links?

Lindner: Diffus. Und Manfred Weber von der CSU, der mögliche Spitzenkandidat der EVP, hat es nicht einmal geschafft, seine Fraktion hinter dem Beschluss zu versammeln, ein Rechtsstaatsverfahren gegen Viktor Orban einzuleiten. Wir wollen in unserer europäischen Kernfamilie weitere positive Kräfte zusammenführen. Gegen autoritäre Populisten, gegen die Erschöpfung der Christdemokraten und auch gegen aufkommenden Linkspopulismus. Wir sind es, die im deutschen Parteienspektrum Macrons Bewegung La République en Marche am nächsten stehen.

Frage: Was sind die wichtigsten Ziele der FDP?

Lindner: Wir wollen ein Europa der Freiheit und der Vielfalt und der Rücksichtnahme auf regionale Besonderheiten. Bei finanzpolitischer Eigenverantwortung.

Frage: Vor Zeiten, als die FDP noch das Außenministerium führte, hat sie die Position vertreten, dass auch die Türkei zu Europa gehört und einen fairen Umgang mit Erdogan gefordert. Wie sehen Sie das 2018?

Lindner: Die Türkei entwickelt sich weg von der Europäischen Union, und die EU ist selbst nicht aufnahmebereit. Die Illusion der EU-Mitgliedschaft sollte man begraben. Es ist aber wichtig, in Gespräche über einen Grundlagenvertrag einzutreten. Es gibt viele Alltagsfragen, die Menschen berühren, die bei uns leben, und auch viele Fragen, die Geschäftsleute betreffen. Visa-Regeln zum Beispiel. Darüber sollte man sachlich sprechen. Das wäre ein Signal, dass wir die Türkei gerne wieder als Partner Europas sähen, wenn die Fragen von Rechtsstaat und Demokratie dort geklärt sind.

Frage: Sie haben für Freitag Ihre Teilnahme am Staatsbankett mit Präsident Erdogan abgesagt. Der langjährige FDP-Außenminister Hans-Dietrich Genscher warb immer für eine „aktive Entspannungspolitik“. Müsste man sich nicht auch mit einem Autokraten an einen Tisch setzen, wenn am Ende die Verhältnisse besser werden?

Lindner: An einen Verhandlungstisch setzen ja. Aber das ist etwas anderes als der Tisch beim Staatsbankett mit Sekt und Silberschatz des Präsidialamts. Das ist eine Ehrenbezeugung, die ich aktuell bei Herrn Erdogan für ein falsches Signal halte.

Frage: In Bayern kommt der Wahlkampf allmählich auf die Zielgerade. Es läuft dort wirtschaftlich blendend. Mancher sieht da keinen Unterschied zu der Zeit, als die FDP an der Regierung beteiligt war. Warum wollen Sie in Bayern mitmischen?

Lindner: Die gegenwärtige Lage hat doch nichts mit Regierungshandeln zu tun. Selbst Sahra Wagenknecht könnte regieren, und es würde die Wirtschaft vermutlich nicht komplett ruinieren. Niedrige Zinsen, der künstlich niedrige Außenwert des Euro, die vielen Babyboomer, die in Arbeit sind: All das macht unsere Wirtschaft bombastisch stark. Aber wir haben den Höhepunkt wahrscheinlich überschritten. Trump und Macron senken die Steuern, die Chinesen werden dominant in der Weltwirtschaft. Da können wir nicht weitermachen wie bisher. In Bayern müsste man Schulen und Hochschulen verbessern, Kitaplätze schaffen und Schulden schneller tilgen als geplant – und nicht Geld verteilen mit der Gießkanne.

Frage: Ministerpräsident Markus Söder sagt über die FDP „Wer in Berlin kneift, darf nicht erwarten, sich in München an den gedeckten Tisch setzen zu können“.

Lindner: Was mich verstört: Das öffentliche Reden und das Reden hinter den Kulissen fallen krass auseinander. Die CSU hat uns nach dem Scheitern von „Jamaika“ nahezu täglich auf die Schultern geklopft und uns gedankt, dass wir dieses Schauspiel beendet haben. Die grüne Agrarwende hätte der CSU in Bayern massenhaft Wähler abspenstig gemacht. CSU-Politiker haben uns hinter den Kulissen Kränze der Dankbarkeit geflochten. Politik ist manchmal auch eine Charakterfrage.

Frage: In Bayern liegen Sie in Umfragen bei etwa fünf, in Hessen bei sieben Prozent. Was macht Sie so sicher, dass die FDP Ende Oktober in beiden Landtagen ist?

Lindner: Die Umfragen geben die tatsächliche Stimmung nicht wieder. Wir werden nicht nur das Comeback schaffen, sondern ein echter Gestaltungsfaktor werden. Dass Schwarz-Grün in Hessen die Mehrheit verliert, zeichnet sich ab. Will man in Hessen eine große Koalition? Will man in Bayern Schwarz-Grün? Oder will man Regierungen aus der Mitte, die wirtschaftliche Vernunft mit moderner Gesellschafts- und Bildungspolitik verbindet? Das ist die entscheidende Frage.

Frage: Wie ist das eigentlich nach einem Tag wie gestern, der die Republik mit einer Nachricht aufgerüttelt hat: Geht man dann als Profi-Politiker zur Tagesordnung über, oder empfindet man auch Mitgefühl mit einem Mann wie Volker Kauder, der ein so krasses Ende seiner langen Karriere erfährt?

Lindner: Von mir hören sie kein Wort der Schadenfreude. Es gibt schwierige Lagen. Herr Kauder ist ein erfahrener Mann und auch eine verdiente Persönlichkeit. Es herrscht gegenwärtig eine ganz offensichtliche Unruhe in nahezu allen Parteien. Es gibt einen Modernisierungsstau in unserem politischen System. Das entlädt sich manchmal in Wahlergebnissen, die man nicht persönlich nehmen sollte.