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Sachsen-Anhalt-News: Landesbehindertenbeauftragter: An alle Schülerinnen und Schüler denken – vor, im und nach dem Lockdown

Sonntag, den 14. Februar 2021

Magdeburg. Schulen in Kürze wieder öffnen zu wollen, ob mit festen Klassenverbänden oder im Wechselmodell, ist zwar risikobehaftet, jedoch verständlich und auch ein Zeichen der Hoffnung, so der Landesbehindertenbeauftragte Dr. Christian Walbrach (Foto). „Der schrittweise Übergang in einen schulischen Regelbetrieb beinhaltet die Chance und den Auftrag, sich zielgerichtet auf die Lern- und Entwicklungsbedürfnisse aller Schülerinnen und Schüler einzustellen. Vor einer unreflektierten, auf schnellen Wissensausgleich setzenden Schulöffnung kann ich jedoch nur warnen.“

Dr. Christian Walbrach: „Schule als System ist existenziell auf den zwischenmenschlichen Austausch zwischen Lehrenden und Lernenden angewiesen. Wir erleben jetzt, welche enorme wesensbildende Bedeutung Lehrerinnen und Lehrer haben. Der zeitweise Verlust des physischen Austauschs wirkt sich auf die kindliche Seele und das Leistungsvermögen unterschiedlich stark aus.

Nicht alle Schülerinnen und Schüler haben günstige sozio-ökonomische Bedingungen, um Krisen wie die aktuelle gut zu überstehen. Manche Elternhäuser sind schlichtweg überfordert. Viele Schülerinnen und Schüler entfernten sich in dieser historischen Notlage unverschuldet von gewohnten Tagesstrukturen. Diejenigen, die der Schule vor der Krise regelmäßig unerlaubt fernblieben, haben ihre Distanz zu dem, was schulisches Leben für sie bedeutet, noch weiter ausgebaut.

Wir müssen verstehen, ganz klar bilanzieren und bevor wir agieren: Die unverschuldete schulische Abstinenz führte mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Bildungslücken, zu Entwicklungs- und Bindungsabbrüchen. In Sachsen-Anhalt haben wir die Verantwortung für viele Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Ihnen fehlten oft differenzierte Lernangebote, Schulbegleitung oder Assistenz. Zu viele Schüler verlassen unsere Schulen bereits jetzt ohne verwertbaren Schulabschluss. Die krisenbedingten Entwicklungsstörungen im Kindes- und Jugendalter haben im Bundesmaßstab deutlich zugenommen. Hoffen wir darauf, dass es keine psychischen Langzeitschäden gibt.

Vor allem lernschwache und von Behinderungen bedrohte Schülerinnen und Schüler benötigen schulformübergreifend eine bedarfsgerechte Willkommenskultur. Sie benötigen gerade jetzt die Schaffung einer Lernumgebung, die ihnen den schulischen Anschluss ermöglicht. Sie brauchen wieder ihre Entwicklungsrituale, Regeln und Grenzen, Gewohnheiten, Strukturen und somit Sicherheit. Es wird nicht leicht, aber unumgänglich, den Effekten der schulischen Entwöhnung entgegenzuwirken.

In vielen Schulen unseres Landes tut man sich von je her schwer damit, eine individuelle Lernförderung und eine differenzierte Leistungsbewertung zu gestalten. Das Hinauswachsen aus der Krise erfordert jedoch gerade solche Qualitätsmerkmale. Realistisch betrachtet, verbindet sich die personelle Versorgung in zu vielen Schulen mit einer Notstandsverwaltung und hier mit dem häufigen Auftrag einer Schadensbegrenzung. Vor diesem zweifelsfrei schwierigen Hintergrund darf jetzt auf keinen Fall die Frage aufkommen, ob wir uns ein Mehr an Förder- und Unterstützungsangeboten leisten können. Wir müssen uns mit einem klaren Folgenbewusstsein die Frage stellen, ob wir es uns leisten können, dies nicht zu tun.

Bildungs- und Chancengerechtigkeit erfahren nur dann ihre Umsetzung, wenn alle Schülerinnen und Schüler in den Blick genommen werden. Was wir im Lande jetzt brauchen, ist ein bedarfsgerechter, schulprogrammatischer Masterplan für die Situation, die sich im Zuge der erhofften Normalisierung einstellt. Dies betrifft z.B. die Tagesstrukturen, die pädagogischen Konzepte, die Schülertransporte, die Flexibilisierung der Stundentafeln, die Lernstandsanalysen oder die Förderprogramme. Auf keinen Fall darf die Öffnung der Schulen, darf ein neues Schuljahr 2021/2022 mit der gewohnten Dynamik und mit den traditionellen pädagogischen Erwartungshaltungen einhergehen. Die womöglichen Brüche in den Bildungsbiographien vieler Schülerinnen und Schüler wären unverantwortlich.

Auch an dieser Stelle müssen wir aus der Krise lernen. Dabei geht es um die erlebte und künftige Qualität des Distanzlernens in Inhalt und Form. Wir benötigen einen weiteren Auf- und Ausbau der digitalen Infrastruktur auf schulischer Ebene. Wir müssen achtsam bleiben und pädagogische Nachsorge für benachteiligte Schülerinnen und Schüler betreiben. Eltern sind und bleiben Partner der Schule, jedoch sind sie keine Ersatzlehrkräfte. Wir dürfen nicht zur Tagesordnung übergehen, sondern müssen unter Aufbringung aller Kräfte verwertbare schulische Abschlüsse sichern. Das Benachteiligungsverbot nimmt uns mit Weitsicht den Auftrag ab, eventuellen Stigmatisierungen der krisengeplagten schulischen Jahrgänge entgegenzuwirken. Es darf in der Bewertung des Geschehens kein verlorenes Schuljahr und keine sogenannten Corona – Jahrgänge geben.“