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Magdeburgs Behindertenbeauftragter Pischner: Kaum Fortschritt für Inklusion

Sonntag, den 1. Dezember 2019

Statement zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen am 03.12.19

Im Vorfeld des jährlich am 3. Dezember begangenen Internationalen Tages der Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen hat Magdeburgs Behindertenbeauftragter Hans-Peter Pischner ein Statement veröffentlicht. Darin schätzt er ein, wie es um die Barrierefreiheit und die Teilhabechancen für die mehr als 20.000 Menschen mit Behinderungen in Magdeburg im Jahr 2019 steht.
 
"Die seit 2009 in der Bundesrepublik Deutschland als unmittelbares Recht geltende UN-Behindertenrechtskonvention fordert von allen staatlichen Ebenen, nicht zuletzt von den Kommunen, ‚geeignete Vorkehrungen‘ für eine wirkliche umfassende Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Leben der Gemeinschaft zu schaffen. Genau das ist mit dem Begriff ‚Inklusion‘ gemeint.
 
Sieht man sich in der Landeshauptstadt Magdeburg um, wird man feststellen, dass in den vergangenen rund 20 Jahren viel getan wurde, um in wichtigen Lebensbereichen Barrieren abzubauen. So wurden die meisten kommunalen Verwaltungsgebäude, Einrichtungen der Kultur und Freizeit, Sportanlagen, Schulen und Kindergärten weitgehend barrierefrei zugänglich und nutzbar gestaltet. Auch im öffentlichen Personenverkehr und im öffentlichen Raum wurden Zugangsbarrieren zumindest teilweise abgebaut.
 
Dennoch bleibt auf diesem Gebiet noch viel zu tun
 
Man kann sich streiten, ob in puncto Barrierefreiheit das Glas halb voll oder halb leer ist. Fakt ist, dass mehr als die Hälfte der Haltestellen der Magdeburger Verkehrsbetriebe (MVB) noch nicht barrierefrei sind, also noch keinen (fast) stufenlosen Zugang zu den Fahrzeugen erlauben. Weniger als die Hälfte von über 200 Kreuzungen und Übergängen mit Ampelregelung ‚piepen‘ für Blinde und Sehbehinderte. Es fehlt auch an Bodenindikatoren, die diesem Personenkreis die Orientierung erleichtern könnten.
 
Es gibt zu wenige barrierefreie Wohnungen in Magdeburg. Statt des von mir geschätzten Bedarfs von rund 10.000 solcher Wohnungen, steht nur ein Bruchteil zur Verfügung, zumal das Land Sachsen-Anhalt zu wenig tut, um das zu ändern. Menschen mit Mobilitätseinschränkungen, die auf einen Rollstuhl oder Rollator angewiesen oder pflegebedürftig sind, finden nur schwer geeignete Wohnungen, insbesondere wenn sie sich keine hohe Miete leisten können.
 
Viele kommunale Behindertenstellplätze erfüllen nicht die Anforderungen der geltenden Normen oder fehlen an bestimmten wichtigen Standorten. Gleiches gilt für behindertengerechte WC-Anlagen.
 
Schwierig bleibt die ambulante medizinische Versorgung für viele Menschen mit Behinderungen, wenn sie einen Hausarzt suchen oder einen Facharzttermin brauchen. Da sich viele Praxen inzwischen in der Innenstadt in neuen oder sanierten Objekten angesiedelt haben, hat sich immerhin die barrierefreie Zugänglichkeit dieser Praxen verbessert.
 
Im November wurde in den Pfeifferschen Stiftungen ein Medizinisches Zentrum für erwachsene Menschen mit Behinderungen eröffnet, dass die Versorgung vor allem für mehrfachbehinderte Betroffene und Menschen mit geistigen Behinderungen spürbar verbessern soll. Für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen gibt es schon seit über 20 Jahren das Sozialpädiatrische Zentrum, ebenfalls eine Einrichtung der Pfeifferschen Stiftungen.
 
Sorge bereitet nach wie vor der allgemeine Arbeitsmarkt, der für behinderte Arbeitssuchende viele Hürden bereithält. Sachsen-Anhalt ist hier bundesweites Schlusslicht, nur rund 3,6 % der Arbeitsplätze sind mit Schwerbehinderten besetzt, obwohl gesetzlich 5 % vorgesehen sind. Dafür arbeiten fast 1.200 Menschen mit Behinderungen in den beiden speziellen Werkstätten fernab von Mindestlohn.
 
In den Schulen ist der Trend zur Inklusion seit zwei Jahren rückläufig. Die Zahl der Schüler*innen an den zehn Förderschulen steigt wieder deutlich an, während die Zahl der Schüler*innen mit Förderbedarf im gemeinsamen Unterricht an Grundschulen und Gemeinschaftsschulen zurückgeht. An den Gymnasien finden sich kaum Schüler*innen mit Behinderungen. Die UN-Behindertenrechtskonvention sieht eigentlich den Zugang für diese Kinder und Jugendlichen mit Förderbedarf an die ‚normalen‘ Schulen vor.
 
Doch es tut sich auch etwas
 
Die Landeshauptstadt überarbeitet derzeit ihren in die Jahre gekommenen, nur teilweise realisierten Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention aus dem Jahre 2011/ 2012. Diesmal sollen vor allem realistische, finanziell untersetzte Maßnahmen aufgenommen werden.
 
Die Magdeburger Verkehrsbetriebe und das Stadtplanungsamt untersuchen derzeit alle Haltestellen, um eine Prioritätenliste für den barrierefreien Ausbau aufzustellen, auch wenn es unrealistisch ist, bis 2022 den ÖPNV vollständig barrierefrei zu gestalten.
 
Etabliert haben sich die drei Beratungsstellen im Rahmen der "Ergänzenden Unabhängigen Teilhabeberatung‘, an die sich Betroffene und ihre Familien in allen Fragen der Teilhabe und Unterstützung wenden können. Inzwischen gibt es zwei Beratungsstellen für barrierefreies Wohnen, getragen vom Verein PIA e.V. bzw. den Pfeifferschen Stiftungen, beide in der Leiterstraße.
 
Seit 20 Jahren befasst sich die Arbeitsgruppe der Menschen mit Behinderungen in der Stadtverwaltung regelmäßig vor allem mit Fragen der Verbesserung der Barrierefreiheit in Magdeburg. Immer mehr Hinweise dazu kommen auch von Bürger*innen, den Arbeitsgruppen der Gemeinwesenarbeit in den Stadtteilen und aus den Ratsfraktionen.
 
Insofern geht es auf dem beschwerlichen Weg zu mehr Inklusion und Barrierefreiheit in Magdeburg trotz vieler bestehender ‚Baustellen‘ und Probleme voran, wenn auch in kleinen Schritten und langsamer als es im Interesse aller Betroffenen zu wünschen wäre."
 
 
Hintergrund:

Vor 25 Jahren, Im November 1994, wurde ein Benachteiligungsverbot für Menschen mit Behinderungen in das Grundgesetz aufgenommen (Artikel 3, Absatz 3).
 
Die UN-Behindertenrechtskonvention wurde am 13.12.2006 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet. Sie trat nach erfolgter Ratifizierung am 26.03.2009 in der Bundesrepublik Deutschland als unmittelbar geltendes Recht in Kraft.
 
In Deutschland leben mehr als zehn Millionen Menschen mit einer anerkannten Behinderung, darunter fast acht Millionen anerkannte Schwerbehinderte. Schwerbehindert sind damit fast 10 % der Bevölkerung. Die Tendenz ist steigend. In Sachsen-Anhalt waren Ende 2018 fast 200.000 anerkannte Schwerbehinderte registriert. Das sind 9 % der Bevölkerung, was deutlich unter dem Bundesdurchschnitt liegt.
 
Von den rund 18.900 Magdeburger Schwerbehinderten sind rund 10.300 in ihrer Mobilität wesentlich beeinträchtigt (Merkzeichen aG und G), grob geschätzt sind mindestens 2.000 von ihnen auf einen Rollstuhl angewiesen. 265 sind blind, 197 gehörlos und fast 5.000 haben Anspruch auf die Mitnahme einer Begleitperson im ÖPNV (Merkzeichen B). Als hilflos gelten mehr als 2.200 Menschen (Merkzeichen H). Fast 2.300 Magdeburger besitzen das Merkzeichen RF und zahlen aufgrund von Seh- oder Hörbehinderung oder schwerer Behinderung einen ermäßigten Rundfunkbeitrag, soweit sie nicht wegen geringen Einkommens ganz befreit werden. 63,5 % der Betroffenen sind bereits 65 Jahre und älter, während nur 2,5 % jünger als 18 Jahre sind. 52 % der Behinderten sind weiblich.
 
Mehr als 9.000 Magdeburger sind pflegebedürftig, Über 3.200 von ihnen werden in mehr als 50 stationären Einrichtungen gepflegt, die übrigen in der Familie oder von ambulanten Pflegediensten.
 
An den beiden Magdeburger Werkstätten für Menschen mit Behinderungen sind fast 1.100 Betroffene beschäftigt. Rund 880 Menschen mit Behinderungen leben in stationären Einrichtungen (Heime bzw. Wohnstätten an den Werkstätten). Nach der Arbeitslosenstatistik der Agentur für Arbeit waren im August 2019 in Magdeburg 364 schwerbehinderte Menschen arbeitslos gemeldet, darunter 124 Frauen. Das sind 3,5 % der offiziell ausgewiesenen Arbeitslosen. Rund zwei Drittel der behinderten Arbeitssuchenden sind langzeitarbeitslos und beziehen Grundsicherung beim Jobcenter (Hartz IV). Bei der Beschäftigung von Schwerbehinderten ist Sachsen-Anhalt seit Jahren bundesweites Schlusslicht. Die Beschäftigungspflichtigen Unternehmen beschäftigen nur 3,6 % Schwerbehinderte, im Bundesdurchschnitt sind es 4,7 %.
 
In Magdeburg lernen im laufenden Schuljahr 1.152 Schüler*innen mit Förderbedarf (Vorjahr:1.091) an 10 Förderschulen. Das ist ein Anstieg um 5,6 %. Rund 500 Kinder und Jugendliche mit Förderbedarf werden im gemeinsamen Unterricht an Regelschulen betreut. Die schulische Inklusion ist also derzeit in Magdeburg rückläufig.
 
Magdeburgs derzeitiger Behindertenbeauftragter, Hans-Peter Pischner, beendet zum Jahresende 2019 seine Tätigkeit und wird in Rente gehen. Für seine Nachfolge läuft derzeit das Ausschreibungsverfahren.

Foto von Landeshauptstadt Magdeburg: Behindertenbeauftragter Hans-Peter Pischner