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Massengrab aus Halberstadt belegt neue Facette jungsteinzeitlicher Gewalt

25. Juni 2018

Eine heute im renommierten Online-Journal „Nature Communications“ vorgestellte
Studie erweitert unsere Kenntnis über kollektive Gewaltanwendung in der
Jungsteinzeit und zeigt eine komplexe Verflechtung möglicher Opfer- und Täterrollen
in der Zeit der ersten Bauernkulturen in Mitteleuropa auf. Tödliche
Schädelverletzungen, Isotopenanalysen und weitere Ergebnisse belegen, dass im
nördlichen Harzvorland vor ca. 7.000 Jahren eine Gruppe von jüngeren und
ortsfremden Erwachsenen gezielt zu Tode gebracht wurde. Vergleiche mit anderen,
zeitgleichen Fundstellen aus anderen Regionen legen nahe, dass es sich hier
wahrscheinlich um eine kontrollierte Hinrichtung gehandelt hat.

Das Zeitalter der ersten Bauernkulturen brachte nicht nur Ackerbau und Viehzucht
nach Mitteleuropa, sondern auch die Anlage fester Siedlungen und ausgewiesener
Bestattungsplätze. Während der Zeit der sog. Linienbandkeramik (vor ca. 7.500 bis
7.000 Jahren), welche den Beginn der Jungsteinzeit in unserer Gegend markiert,
wurden Tote in der Regel sorgfältig in eigenen Gräbern beigesetzt, oft mit
verschiedenen Grabbeigaben ausgestattet und ihre Körper zumeist in angehockter
Seitenlage arrangiert. Auch Brandbestattungen kamen vor, die ebenfalls von einer
Fürsorge der Hinterbliebenen für die Verstorbenen zeugen.

Seit den 1980er Jahren sind jedoch auch einige wenige Massengräber und andere
komplexe Fundstellen dieser Kultur bekannt geworden, die menschliche
Skelettreste enthielten und sich massiv von den regelhaft angelegten Bestattungen
der Linienbandkeramiker unterscheiden. Zu nennen sind beispielsweise die
Fundorte Herxheim, Talheim, Wiederstedt und Schöneck-Kilianstädten in
Deutschland sowie Asparn/Schletz in Österreich. In den Massengräbern wurden
zahlreiche Körper regellos in einer gemeinsamen Grabgrube deponiert; Beigaben
fehlen, ebenso wie alle Anzeichen von Sorgfalt oder Fürsorge. In den meisten Fällen
weisen die noch erhaltenen Skelettreste dieser Menschen deutliche Spuren tödlicher
Schädelverletzungen auf und ihre Alters- und Geschlechtsverteilung – unter den
Toten sind zu etwa gleichen Teilen Erwachsene und Kinder beiderlei Geschlechts -
deuten an, dass hier mitunter ganze Siedlungsgemeinschaften gewaltsam
ausgelöscht worden sind.

Im Jahr 2013 wurde durch ein Grabungsteam des Landesamtes für Denkmalpflege
und Archäologie Sachsen-Anhalt ein neues Massengrab in Halberstadt entdeckt.
14C-Datierungen belegen, dass dieses Grab in denselben Zeithorizont fällt wie die
bereits bekannten Massaker aus anderen Teilen Deutschlands und Österreichs. Die
umfassende Untersuchung des zunächst im Block geborgenen Massengrabes
brachte jedoch überraschend neue Facetten von kollektiver, tödlicher
Gewaltanwendung ans Licht, die der Forschung bisher nicht bekannt waren. Die
Ergebnisse dieser Analysen, an denen im Auftrag des Landesamtes für
Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt verschiedene Forscher und
Institutionen beteiligt waren, werden heute im international angesehenen
Wissenschaftsjournal Nature Communications vorgestellt und interpretiert.

Der Anthropologe und Archäologe Christian Meyer, Erstautor der Studie und aktuell
bei OsteoARC – OsteoArchaeological Research Centre in Goslar tätig, konnte
zusammen mit weiteren Kollegen dokumentieren, dass sich die Verteilung der
Schädelverletzungen an den Skeletten aus Halberstadt deutlich von derjenigen
anderer Fundorte unterscheidet: Die tödlichen Schläge zielten nahezu ausschließlich
auf einen bestimmten Bereich des Hinterkopfes der Opfer. Diese waren - mit nur
einer Ausnahme - jüngere Männer, die außer den schwerwiegenden Verletzungen, 
die rund um ihren Todeszeitpunkt entstanden, kaum andere Gebrechen aufwiesen.
Kinder fehlen im Massengrab aus Halberstadt völlig. Diese sind jedoch andernorts
häufig unter den Opfern von kollektiver steinzeitlicher Gewalt, so z. B. auch in den
einige Jahrtausende jüngeren Familiengräbern von Eulau, die Teil der
Dauerausstellung im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle (Saale) sind.

Isotopenanalysen an Proben von Knochen und Zahnschmelz konnten zudem
belegen, dass die getöteten Personen aus dem Massengrab nicht aus der gleichzeitig
bestehenden, jungsteinzeitlichen Siedlung in Halberstadt stammten.
In der Gesamtschau wird somit deutlich, dass dieser Befund einen anderen
Ursprung hat als die bisher bekannten Massaker an bandkeramischen
Gemeinschaften. Hier wurde offenbar keine lokale Dorfbevölkerung überraschend
überfallen und in einer Grube verscharrt. Vielmehr deutet alles darauf hin, dass hier
eine Gruppe von gefangenen Personen fremder Herkunft kontrolliert getötet wurde.

Möglicherweise bildet das Massengrab von Halberstadt somit geradezu einen
Gegenpol zu den anderen Fundorten kollektiver Gewalt. Vorstellbar ist, dass die
Toten selbst Aggressoren waren, die zwar einen Überfall planten, damit aber
scheiterten. Die Herkunft aus einiger Entfernung und das Überwiegen junger
Männer würden zu einem derartigen Szenario passen. Möglich ist jedoch auch, dass
es sich um Gefangene handelte, die von einem anderen Ort mitgebracht wurden.
Eine solche Interpretation erscheint jedoch weniger wahrscheinlich, da bisher keine
Anzeichen dafür vorliegen, dass in dieser Zeit männliche Personen bei Massakern
verschont und gefangen genommen wurden. Dies wird nur für jüngere Frauen
vermutet, da diese in anderen Massengräbern regelhaft nur in geringer Zahl unter
den Getöteten zu finden sind.

In jedem Fall zeigt der Befund exemplarisch auf, dass die Grenzen zwischen Täter
und Opfer fließend sein können, und komplexe Befunde auch komplexe Analysen
und Antworten erfordern. Im Fall der vorliegenden Studie ermöglichte die
Kombination aus klassischen anthropologischen und archäologischen sowie
naturwissenschaftlichen Analysen (z. B. Strontium-Isotopenanalyse) den Nachweis
der ältesten bisher bekannten gezielten Tötung Gefangener. Damit belegt sie einmal
mehr das Potential, das die kombinierte Anwendung unterschiedlicher, aufeinander
abgestimmter Methoden hinsichtlich der Auswertung komplexer und zunächst
rätselhafter archäologischer Befunde birgt.