Anstieg auf 265 rechte Gewalttaten
markiert „bitterste Bilanz“ seit Bestehen des Projekts
Sachsen-Anhalt braucht
Bleiberechtserlass für Opfer rechter Gewalt wie in Brandenburg
265 politisch rechts motivierte Gewalttaten mit 401 direkt
davon betroffenen Menschen hat die Mobile Opfer-beratung für das Jahr 2016 in
Sachsen-Anhalt registriert. Damit hat sich die Zahl der bekannt gewordenen
politisch rechts und rassistisch motivierten Angriffe im Vergleich zu 2015
erneut erhöht. So hatte die Mobile Opferberatung im März 2016 für das Jahr 2015
217 Angriffe bekannt gegeben und damit eine Verdopplung im Vergleich zu 2014
konstatieren müssen.
„Statistisch gesehen wurde in 2016 quasi jeden
Tag jemand in Sachsen-Anhalt aufgrund der Herkunft, Haut-farbe, des Glaubens,
gesellschaftlichen Status, der sexuellen Identität, der politischen Einstellung
oder des Engagements für eine demokratische Gesellschaft zum Ziel rechter
Gewalt“, so eine Sprecherin der Mobilen Opferberatung. „Dieses erschreckende Ausmaß rechter Gewalt markiert die
bitterste Bilanz seit Bestehen der Mobilen Opferberatung – zumal die
Dunkelziffer nicht bekannt gewordener rechter Angriffe auch in 2016 um ein
Vielfaches höher liegen dürfte.“
Verdreifachung rassistischer Gewalt
gegen Kinder
Zwei Drittel der Angriffe waren rassistisch
motiviert (176; 2015: 155). Damit setzt sich der anhaltende Anstieg
rassistischer Gewalt seit 2014 unvermindert fort. Eine besonders
besorgniserregende neue Entwicklung ist, dass deutlich mehr Kinder von
rassistischer Gewalt betroffen waren. So hat die Mobile Opferberatung in 2016
45 Betroffene unter 14 Jahren registriert, womit sich die Angriffe auf Kinder
im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdreifacht haben (2015: 17). „Die
Hemmschwelle, gewaltvoll gegen Kinder Geflüchteter vorzugehen, ist sowohl bei
jugendlichen als auch erwachsenen Täter_innen dramatisch gesunken. Gewalt gegen
vermeintlich Nichtdeutsche – auch gegen Kinder – erscheint offenbar zunehmend
als legitimes Mittel zu deren Verdrängung und Vertreibung.“
Gerade Angriffe auf Kinder von Geflüchteten
durch Gleichaltrige – beispielsweise auf Spielplätzen oder in Schulen – werden
oft verharmlost: „Rassistische Motive werden hier oft mit Verweis auf das Alter
der Betei-ligten nicht gesehen und nicht selten wird den betroffenen Kindern
eine Mitschuld unterstellt“, betont die Sprecherin der Mobilen Opferberatung.
„Um Menschen als minderwertig anzusehen, sie abzuwerten und zu verletzen
braucht es kein gefestigtes rechtes Weltbild. Gewalt ist hier vielmehr die
Konsequenz aus gesell-schaftlich weit verbreiteten, menschenverachtenden
Einstellungen, die Erwachsene an Kinder weitergeben.“ Die Folgen für die
betroffenen Kinder und ihre Familien sind oftmals gravierend.
Sechs versuchte Tötungen
In 2016 war es zudem nur glücklichen Umständen
geschuldet, dass in Sachsen-Anhalt die Betroffenen bei sechs versuchten Tötungsdelikten
mit politisch rechtem Hintergrund (2015: 0) überlebt haben. So wie ein
24-jähriger Alternativer, der am 4. Juni 2016 auf der Ziegelwiese in Halle von
einem unbekannten Jugendlichen mit mehreren Messerstichen lebensgefährlich
verletzt wurde. Am 30. Juni 2016 schlugen und traten zwei Unbekannte in Zerbst
auf einen 34-jährigen Pakistani ein und ließen ihn verletzt auf den Bahngleisen zurück. Weil sich der
Betroffene noch aufrichten konnte, erfasste ihn ein herannahender Zug lediglich
an der Schul-ter. Am 25. August 2016 eröffnete ein Anhänger der extrem rechten
„Reichsbürger-Bewegung“ bei einer Zwangsräumung in Reuden (Burgenlandkreis) das
Feuer auf Polizeibeamte.
Bei 88 Prozent der dokumentierten Fälle handelt
es sich um versuchte bzw. vollendete Körperverletzungs- bzw. Raubdelikte (232;
2015: 201). Daneben wurden zwölf Brandstiftungen (2015: 10) sowie sechs
Nötigungen bzw. Bedrohungen (2015: 21) und neun Sachbeschädigungen (2015: 7)
aufgrund der jeweils gravierenden Folgen für die Betroffenen in die Statistik
aufgenommen.
Weitere Tatmotive und
Schwerpunktregionen
72 Angriffe und damit 27 Prozent (2015: 62)
richteten sich gegen (vermeintliche) politische Gegner_innen, d.h. Menschen,
die sich gegen Rassismus und Neonazismus engagierten, bei rechten Angriffen
intervenier-ten oder auch gegen Journalist_innen, die rechte Aktivitäten
dokumentierten. Damit bewegt sich die Gewalt gegen diese Betroffenengruppe auf
dem hohen Niveau des Vorjahres (2015: 26 Prozent). Daneben richtete sich rechte
Gewalt in zwölf Fällen gegen nichtrechte Jugendliche und Erwachsene (2015: 7).
Sozialdarwinis-mus war bei drei Angriffen (2015: 6), Antisemitismus und
Homophobie bei jeweils einem Angriff (2015 je 3) Tatmotiv.
Schwerpunkte politisch rechts motivierter Gewalt
in Sachsen-Anhalt waren auch in 2016 die Stadt Halle (Saale) mit 47 Angriffen
(2015: 76), dicht gefolgt vom Landkreis Jerichower Land mit 40 Gewalttaten
(2015: 12), davon allein 36 in der Stadt Burg (2015: 8). Weitere Schwerpunkte
waren die Landeshauptstadt Magde-burg mit 30 Angriffen (2015: 43), der
Saalekreis (20; 2015: 14), die Stadt Dessau-Roßlau (19; 2015: 3), der
Altmarkkreis Salzwedel und der Bördekreis mit jeweils 18 (2015: 8 bzw.19) sowie
der Burgenlandkreis mit 17 politisch rechts motivierten Gewalttaten (2015: 13).
Wahrnehmungsdefizite in
polizeilicher Erfassung
Obwohl mindestens 227 der registrierten
Gewaltstraftaten polizeibekannt sind, hat das Landeskriminalamt Sachsen-Anhalt
wie im Vorjahr bislang nur etwas mehr als die Hälfte (127; 56 Prozent) auch als
politisch rechts motiviert registriert. „Neben fortbestehenden
Wahrnehmungsdefiziten zu rechten Tatmotiven ist auch die offensichtliche
Überlastung der Strafverfolgungsbehörden für die Betroffenen ein riesiges
Problem“, be-tont die Sprecherin der Mobilen Opferberatung. Wenn beispielsweise
Vernehmungstermine nicht zeitnah zur Tat realisiert werden, sinke die Chance
auf erfolgreiche Fahndungen nach den Täter_innen und Anerken-nung der
Tatmotivation durch die Ermittler_innen.
Zur Eingrenzung der Wahrnehmungsdefizite wäre
neben der zeitnahen Einvernehmung Betroffener ein wie u.a. vom
NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages empfohlener, verbindlicher
Informationsaus-tausch zwischen Polizei und Justiz sinnvoll (vgl. BT-Drs.
17/14600 vom 22.8.2013, S. 861). So sind einige der von der Mobilen
Opferberatung registrierten Angriffe in den Statistiken der
Generalstaatsanwaltschaft als politisch rechts motivierte Kriminalität
aufgeführt, wurden aber von der Polizei nicht als solche gemeldet - wie
beispielsweise der Angriff auf einen Fotografen am Rande einer
AfD-Demonstration am 11. Januar 2016 in Merseburg (Saalekreis) oder der
Brandanschlag auf eine Familie mit Migrationshintergrund in einem Wohn-haus am
19. August 2016 in Genthin (Jerichower Land), wo die Täter ein Hakenkreuz an
der Wand hinterlie-ßen.
Ressourcen weiterhin
unzureichend
Angesichts des anhaltend gravierenden Ausmaßes
rechter Gewalt sind dringend Taten gefragt: Hierzu ge-hört zuvorderst, die
Perspektiven und Wünsche Betroffenen rechter Gewalt wahr- und ernstzunehmen
sowie gemeinsam mit Betroffenen und potenziell Betroffenen effektive Maßnahmen
zur Sensibilisierung und Zurückdrängung menschenverachtender Positionen und
Gewalt vor Ort zu entwickeln. Daneben braucht es eine konsequente Strafverfolgung,
die nicht zuletzt auch eine Ressourcenfrage ist. Auch weitere politische
Signale sind längst überfällig: „Ein Bleiberechtserlass für Opfer rechter
Gewalt wie in Brandenburg wäre ein wichtiges Signal der Solidarität mit den
Betroffenen und zugleich an die Täter_innen und ihr Umfeld, dass sich ihre
Ziele ins Gegenteil verkehren“, ist sich die Sprecherin der Mobilen
Opferberatung sicher.
Dazu gehört ebenso zwingend eine umfassende
professionelle und langfristige Unterstützung für Betroffene rechter Gewalt in
Sachsen-Anhalt: Doch die Mobile Opferberatung konnte trotz der Verdopplung der
Angriffs- und damit auch Beratungszahlen seit 2015 keine einzige neue
Personalstelle einrichten. „Um zumindest eine Notversorgung sicherzustellen,
mussten wir unsere Arbeit in wesentlichen Bereichen einschränken“, kritisiert
eine Sprecherin der Mobilen Opferberatung. „Aktive Recherche, aufsuchende
Beratung, lokale Interventionen oder Öffentlichkeitsarbeit sind in vielen
Fällen nicht mehr möglich. Die Unterfinanzierung ist ein Armutszeugnis für die
Politik und kommt einer Entsolidarisierung mit Betroffenen rechter Gewalt
gleich!“