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Therapie 16.09.

Gesundheit-News: GKV-Finanz - stabilisierungsgesetz - Patienten müssen mit Therapieeinschränkungen leben


veröffentlicht am 16. September 2023

Es ist schon längst kein reines Horrorszenario mehr – sondern Realität in der Bundesrepublik: Innovative Arzneimittel, von denen schwerkranke Patienten profitieren könnten, sind nicht in Deutschland verfügbar. Es ist Folge des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes. Nun ist die Bundesregierung gefragt: Dringend gilt es gegenzusteuern, soll Schlimmeres verhindert werden.
Die Meldungen, dass es in Europa zugelassene Medikamente nicht zu den Menschen in Deutschland schaffen, häufen sich: Da ist etwa ein Kombinationspräparat, das für Menschen mit fortgeschrittenem bzw. gestreutem Hautkrebs in Frage kommt – die Herstellerfirma musste sich dazu entscheiden, es nicht einzuführen. 
Auch einen innovativen HIV-Wirkstoff wird es in der hiesigen Versorgung vorerst nicht geben: Dabei ist er für Patienten mit multiresistenter Infektion gedacht; viele andere Therapien wirken bei ihnen nicht mehr. Ein sogenannter monoklonaler Antikörper sowie ein Tyrosinkinase-Hemmer gegen seltene Formen von Lungenkrebs wurden vom Markt genommen. Ebenso ein Mittel gegen eine seltene Hauterkrankung: Es ist die allererste zugelassene zielgerichtete Therapie für die Betroffenen.

GKV-FinStG: Einführung zahlreicher Arzneimittel gefährdet
Diese Fälle könnten erst der Anfang sein: Der Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa) hat im vergangenen Juni seine Mitglieder befragt – demnach gaben 21 Firmen an, Arzneimittel aufgrund des im November 2022 beschlossenen GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes (GKV-FinStG) „später oder gar nicht auf den Markt zu bringen“ oder dies aktuell konkret zu diskutieren.

Wie viele andere Akteure im Gesundheitssystem hatte die Pharmabranche schon lange vor den möglichen Auswirkungen des Gesetzes gewarnt. In seiner jüngsten Stellungnahme beschreibt es der vfa als „alarmierend, dass die Folgen für den Pharmastandort und insbesondere die Patientenversorgung bereits innerhalb des sehr kurzen Evaluationszeitraums sichtbar werden“. Weiter schreibt der Verband: „Bei den betroffenen Produkten handelt es sich vor allem um Onkologika, aber auch Arzneimittel gegen HIV, Diabetes und neurologische Erkrankungen. Bei etwa einem Drittel zeigt sich eine bereits für Patienten relevante Verzögerung von 6 bis 12 Monaten. Bei etwa einem Viertel kommt es zu Verzögerungen von mindestens 2 Jahren und nahezu die Hälfte der betroffenen Markteinführungen verzögern sich sogar auf unbestimmte Zeit oder bleiben gänzlich aus.“

Pharma: Heute für den Fortschritt von morgen
Das ist nicht im Sinne der Patienten – und nicht im Sinne der Herstellerfirmen: Forschende Pharmaunternehmen sind privatwirtschaftlich organisiert. Sie wollen Arzneimittel und Impfstoffe entwickeln, die das Leid von Menschen lindern bzw. Krankheiten vermeiden helfen – und damit Geld verdienen. Die klinische Entwicklung eines Arzneimittels dauert im Durchschnitt 8 Jahre. Von anfangs 100 klinischen Prüfpräparaten erreichen rund sieben eine Zulassung – und nur 2 bis 3 können die von ihnen verursachten Kosten für Forschung und Entwicklung decken. Das bedeutet zweierlei:

Die Arzneimittelentwicklung ist ein langes, risikoreiches und teures Unterfangen. Wer hier Investitionen tätigt, ist darauf angewiesen, dass die politischen Rahmenbedingungen verlässlich sind und bleiben – und keine Adhoc-Sparmaßnahmen das gesamte Geschäftsmodell ins Wanken bringen.
Firmen, die wirtschaftlich nicht erfolgreich sind, können auch wissenschaftlich nicht erfolgreich sein. Denn ihnen fehlt es an Geld, um komplexe Forschungsprojekte zu finanzieren und so den medizinischen Fortschritt voranzutreiben. Bei Pharma gilt: Die Einnahmen von heute sind Voraussetzung für die Wirkstoffe von morgen.

Wenn Arzneimittel – deren Nutzen durch die europäische Zulassung bereits anerkannt wurde – nicht in Deutschland verfügbar sind, kann das also nicht nur Folgen für die Gegenwart, sondern auch für die Zukunft haben: Schließlich können sie keine Einnahmequelle darstellen, auf deren Basis weitere Forschungsprojekte geplant werden.

GKV-FinStG: Innovationsfeindlich
Was das mit dem GKV-FinStG zu tun hat? Damit hat die Politik Ende vergangenen Jahres „die bewährte Systematik der Erstattungsregeln in Deutschland durcheinandergebracht“ – so beschreibt es vfa-Präsident Han Steutel. Grob zusammengefasst galt vor diesem Gesetz: Der Preis eines neuen Arzneimittels orientiert sich am Ausmaß seines Zusatznutzens gegenüber bewährten Therapien – was besser ist, darf auch mehr kosten. Das GKV-FinStG hat das geändert: Herstellerfirmen können den Zusatznutzen nicht mehr unbedingt monetarisieren – denn in vielen Fällen sollen ihre Präparate maximal genauso viel kosten dürfen wie der Referenzstandard; bei Wirkstoffen, die als gleich gut eingestuft werden wie die Vergleichstherapie, müssen sie gar Preisabschläge hinnehmen.

GKV-FinStG: Innovationsfeindlich
Im Prinzip honoriert das GKV-FinStG nur noch „Sprunginnovationen“, also den medizinischen Fortschritt in großen Sprüngen – die sind aber selten, meist geht es Schritt für Schritt voran. Hinzu kommen weitere innovationsfeindliche Regelungen wie ein pauschaler 20-prozentiger Abschlag auf Arzneimittel, die ihre volle Wirksamkeit in Kombination mit einem weiteren oder mehreren Wirkstoffen entfalten – dabei bringen gerade sie für Patienten mit Krankheiten wie Krebs oft Verbesserungen.

„Im Moment hat Deutschland in Europa noch den Spitzenplatz beim Zugang zu Arzneimittelinnovationen inne – dieser ist allerdings akut gefährdet“, sagt der vfa. Auch ein Blick in öffentliche Datenbanken lege das nahe: „Durchschnittlich sind in den zehn Jahren vor 2022 88,1% der zugelassenen Arzneimittel in Deutschland eingeführt worden mit steigender Tendenz zum Ende dieser Dekade. Im ersten Halbjahr 2023 lag die Verfügbarkeitsquote der 2022 zugelassenen Arzneimittel jedoch 10 Prozentpunkte unter diesem Schnitt. Dieser Befund erhärtet sich auch mit Blick auf die absoluten Zahlen der Markteinführungen in Deutschland: Bis zum 15. August wurden in diesem Jahr lediglich 20 neue Arzneimittel in Deutschland auf den Markt gebracht, das sind 14,5% weniger als in denselben Vorjahreszeiträumen der fünf Jahre zuvor.“

Evaluation des GKV-FinStG
Noch kann das Bundesgesundheitsministerium das Ruder rumreißen: Bis Ende dieses Jahres soll es die Auswirkungen des GKV-FinStG bewerten – und das dem Bundestag vorlegen. „Die Eingriffe in die Nutzenbewertung oder die Rabattierung von Arzneimittelkombinationen erzielen kaum nennenswerte Sparbeiträge für die GKV, richten aber gravierende Schäden an“, betont Steutel. Das vollständige Ausmaß wird sich erst in den kommenden Jahren zeigen – „sofern jetzt keine Korrektur stattfindet“, so der vfa.

Evaluation des GKV-FinStG
Mit dieser Einschätzung ist er nicht allein: Dr. Kai Joachimsen, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Pharmazeutischen Industrie (BPI), weist darauf hin, dass „pharmazeutische Unternehmen angesichts extrem hoher Energiekosten, Erzeugerpreise und fragiler Lieferketten bereits am Limit sind. Solange das Bundesgesundheitsministerium nicht anerkennt, dass es Obergrenzen der Belastungen gibt, werden Hersteller zunehmend in die Lage geraten, Produkte in Deutschland nicht mehr vermarkten zu können“. Werden die Maßnahmen nicht „dringend“ angepasst, bleibe das GKV-FinStG „ein Angriff auf den Innovationsstandort Deutschland, der gleichzeitig auch zumeist schwerkranke Patientinnen und Patienten trifft.“ Im Zuge einer „kurzfristigen Schadensbegrenzung“ fordert der Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller (BAH), weitgehend zu den Regelungen vor dem GKV-FinStG zurückzukehren.

Kritik kommt auch aus Reihen der Politik: Bei einem Treffen der Gesundheits- und Wirtschaftsministerien von Bayern, Baden-Württemberg, Hessen und Rheinland-Pfalz haben die 4 Bundesländer „Vorschläge für eine sichere Versorgung mit Arzneimitteln und Medizinprodukten und eine Stärkung des Produktionsstandortes Deutschland erarbeitet.“ Gefordert sei nun die Bundesregierung, diese „rasch umzusetzen“. Unter anderem seien „die Maßnahmen des GKV-FinStG auf den Prüfstand zu stellen“, heißt es. Es sei „unbestritten, dass auch die pharmazeutischen Unternehmen einen Beitrag zur Konsolidierung der GKV-Finanzen leisten sollen. Aber: Das darf weder den Standort Deutschland noch die Versorgung der Bürgerinnen und Bürger gefährden.“



Text / Foto: PHARMA FAKTEN / pixaby