In Deutschland gibt es rund 1,8 Millionen Menschen, die
unter dem sogenannten Messie-Syndrom leiden. „Das ist eine grobe Schätzung. Das
sind diejenigen, die in Helfernetzwerken oder aus anderen Gründen auftauchen.
Die Dunkelziffer ist sicher höher“, sagt Karoline Stiebler, Ergotherapeutin im
DVE (Deutscher Verband der Ergotherapeuten e.V.) und erklärt: „Das Thema ist
schambehaftet wie kaum ein anderes.“ Dafür gibt es keinen Grund, denn diese
Menschen sind nicht einfach extrem unordentlich. Sie leiden unter einer
Organisations-Defizit-Störung. Es sind bestimmte Erlebnisse oder gestörte
soziale Funktionen, die dazu führen, dass aus fehlender Ordnung Chaos wird.
Nahezu Jeder kennt es von sich selbst, das Messie-Tum im
Miniaturformat: eine unaufgeräumte Schublade mit einem Sammelsurium von Dingen,
Kästchen, die zu schön sind, um sie wegzuwerfen, eine Sammlung von
Eintrittskarten, Postkarten, Zuckerstückchen aus aller Herren Länder. Sachen,
die einem etwas bedeuten, obwohl sie nichts wert sind. Hat Sammelleidenschaft
noch einen gewissen Charme, führt sie bei bestimmten Menschen im Lauf der Jahre
zum landläufig als Messie-Tum bezeichneten Chaos. „Das, was sich im Außen
zeigt, spiegelt das Innenleben der Betroffenen wider“, weiß die Ergotherapeutin
Stiebler. Diese Menschen tun sich meist ihr Leben lang schwer, Entscheidungen
zu treffen – am Ende auch die, was behalten, was wegtun. Neben bestimmten
Persönlichkeitsmerkmalen können Traumata oder gestörte soziale Funktionen die
Ursache sein; auch gibt es eine Theorie zu den innerseelischen Gründen. So kann
etwa übertriebenes Reinlichkeitsverhalten Kindern gegenüber dazu führen, dass
sie keine Selbstwirksamkeit erfahren oder eine überstrenge Erziehung zu
Unselbstständigkeit. In dem kindlichen Bestreben angepasst zu sein, versuchen
sie die übertriebenen Anforderungen an sauber, pünktlich, ordentlich sein, zu
erfüllen. Was auf Dauer nicht gelingen kann, sondern zu Überforderung führt.
Ergotherapeuten bauen Vertrauen auf…
Oft führt die Situation in und um die Wohnung herum zu
Ärger mit Nachbarn, Vermietern, dem Partner. Oder dazu, dass Kinder aus der
Familie herausgenommen werden sollen. In solchen Situationen akzeptieren
Menschen mit einer Organisations-Defizit-Störung leichter Hilfe, beispielsweise
von Ergotherapeuten wie Karoline Stiebler. Sie knüpft mit viel
Fingerspitzengefühl den ersten Kontakt, baut Vertrauen auf und schafft es so,
dass sie die Wohnung Betroffener, in die häufig jahrelang niemand hineindurfte,
betreten darf. „Diese Menschen haben Angst, dass man ihnen ihre Sachen
wegnimmt. Das haben sie schon erlebt“, bestätigt Stiebler den oftmals
übergriffigen Umgang mit den abschätzig als ‚Messie‘ Bezeichneten.
Ergotherapeuten sind anders. Es gehört zu ihrem Berufsethos, ihren Klienten auf
Augenhöhe und mit Respekt zu begegnen. Bedeutet: klare Abmachungen treffen,
Ziele gemeinsam erarbeiten, sich auf den Klienten einlassen.
… und stärken die Motivation
Wie aber gelingt eine Veränderung? Auch da haben
Ergotherapeuten ihre Methoden und Strategien. Zunächst klären sie die
Motivation, finden mit ihren tiefgründigen Fragen heraus, warum ihre Klienten
etwas ändern, eine Therapie machen wollen und was im Einzelnen anders werden
soll. Und stellen mithilfe des sogenannten ‚Messie-House-Index‘ fest, wieviel
Fläche der Wohnung begehbar ist. Danach gilt es, gemeinsam einen Anfang zu
finden. Und zwar im Kleinen. Und im Einverständnis mit dem Betroffenen. Etwa
mit einer bestimmten Kiste oder Ecke zu beginnen. Häufig ist auch die Küche
übervoll. Dann schlägt Stiebler beispielsweise vor, einen Teil des Geschirrs
für einen festgelegten Zeitraum von einigen Wochen in den Keller auszulagern.
Meist ist es so, dass die Person mit der Organisations-Defizit-Störung die
Sachen nicht vermisst und sie später leichter weggeben kann. Zudem muss sie
dann regelmäßig abwaschen, es häuft sich nicht mehr so viel an. Denselben
‚Kellertrick‘ wenden Ergotherapeuten auch bei anderen Gegenständen an. Dabei
räumt derjenige selbst, Ergotherapeuten stehen beratend zur Seite, packen
allenfalls bei Bedarf mit an. Ihre Aufgabe ist es, den Prozess motivierend zu
unterstützen. Dazu setzen Ergotherapeuten eine Methode ein, die auch
Psychotherapeuten verwenden und die sogar für Menschen mit zunächst geringer
Änderungsbereitschaft geeignet ist: die motivierende Gesprächsführung. Sie
loben konsequent. Oder führen alle Aspekte auf, die motivationssteigernd
wirken, etwa wenn sich der im Verlauf der Intervention immer wieder ermittelte
Quotient aus dem ‚Messie-House-Index‘ verbessert. Und sie flechten in passenden
Situationen eben die Argumente ins Gespräch ein, die ihre Klienten als Gründe
für die angestrebte Veränderung angegeben haben.
Messie-Hilfe auch für Angehörige von Menschen mit
Organisations-Defizit-Störung
Das Auslagern von Gegenständen aus der Wohnung in den
Keller oder andere Maßnahmen können, müssen aber nicht klappen. „Es ist wirklich
wichtig, sich als Therapeut davon freizumachen, dass als Resultat nur zählt:
die ausgelagerten Sachen können weg. Ich muss tatsächlich auch ausstrahlen: Es
kommt alleine darauf an, was meinem Gegenüber etwas bedeutet. Kann der Klient
Dinge nicht loslassen oder weggeben, ist das seine und nicht meine Sache“,
betont die Ergotherapeutin, bestätigt aber gleichzeitig, dass die meisten von
Außenstehenden als Messies empfundenen Menschen Erleichterung empfinden, wenn
es ihnen gelingt, wieder mehr Platz und Ordnung zu schaffen. Im Unterschied zu
Angehörigen oder Freunden ist die Ergotherapeutin emotional weniger involviert.
Von der Familie ist dieses professionelle Verhalten kaum zu erwarten. Dennoch
rät sie allen im Umfeld, in einer positiven, wertschätzenden Beziehung zu
bleiben. Oder auch nachzufragen, wie es demjenigen mit seiner Situation geht,
ob er zurechtkommt oder ob Hilfe erwünscht ist. Solche Fragen können
Denkanstöße auslösen, solange sie ehrlich und freundlich sind. Was niemals
funktioniert: Eigene Ideen überzustülpen oder etwa die Wohnung über den Kopf
des anderen hinweg aufzuräumen, Sachen wegzunehmen, Ordnung zu schaffen. Das
verschlimmert die Situation, die Unordnung kehrt unweigerlich zurück, die
derart Entmündigten verlieren das Vertrauen in die Außenwelt noch stärker.
Wie mehr Ordnung kommt und bleibt
Menschen mit einer Organisations-Defizit-Störung zu
therapieren, ist eine komplexe Angelegenheit, so, wie eben auch das
Krankheitsbild vielschichtig und alles andere als mangelnde Ordnungsliebe ist.
Ziel einer ergotherapeutischen Intervention ist, diejenigen zu befähigen, ihren
Alltag besser zu meistern und die erreichte Ordnung dauerhaft zu erhalten. Dazu
arbeiten sie mit den Betroffenen Tagespläne, Wochenpläne, Haushaltspläne aus.
Überlegen sich gemeinsam, wie es klappen kann, Termine pünktlich wahrzunehmen,
beim Eintreffen der Post festzulegen, was kann sofort in den Müll und so
weiter. Zudem empfiehlt die Ergotherapeutin: „Es gibt Selbsthilfegruppen, die
sich zum Beispiel ‚Messiehilfe‘ oder ‚Messie-Selbsthilfegruppe‘ nennen. Dort
werden Tipps ausgetauscht und auch Angehörige können mitkommen. Das verbessert
das Verständnis füreinander ganz erheblich.“
Text - Quelle: Deutscher Verband der Ergotherapeuten e.
V.