Schrittweise
öffnen die Schulen wieder, doch von regulärem Schulbetrieb oder einer
verlässlichen Betreuung für alle Kinder durch Kindergärten und andere
Einrichtungen ist Deutschland noch weit entfernt. Die Lage in vielen Familien
bleibt angespannt. „Aufmerksam und achtsam sein“, ist die Botschaft von
Wolfgang Scheid, Ergotherapeut im DVE (Deutscher Verband der Ergotherapeuten
e.V.). Er ruft in Erinnerung, dass manche Kinder altersbedingt, aufgrund ihrer
Persönlichkeit oder aus anderen Gründen nicht in der Lage sind, ihre Gefühle
und Bedürfnisse zu artikulieren.
Wie
verkraften Kinder die Auswirkungen der Corona-Krise, die Kontaktbeschränkungen
und die häusliche Situation, in der es seit Wochen nur das Modell der eigenen
Familie, aber keine Erfahrungen mit Gleichaltrigen oder generell Input von
außen gibt? Und wie schaffen Eltern und Alleinerziehende das alles? „Das ist
erwartungsgemäß ausgesprochen unterschiedlich“, sagt der Ergotherapeut und
Experte für Psychologie kindlicher Lern- und Entwicklungsauffälligkeiten
Wolfgang Scheid. Er berichtet über seine Erfahrungen aus den zurückliegenden
Wochen. Keine Sorgen macht er sich um Eltern oder Elternteile, die gerade jetzt
ihren hohen Kompetenzgrad beweisen, sogar genießen, sich intensiver mit dem
eigenen Nachwuchs zu befassen. Doch oft genug sieht er kritische
Konstellationen, die dazu führen, dass die Eltern und Elternteile, die schon
vor der Corona-Krise überfordert waren, jetzt völlig zusammenbrechen.
Manche
sind mit dem Lockdown regelrecht abgetaucht, waren telefonisch nicht mehr
erreichbar und entziehen sich noch immer jeglicher Kontaktaufnahme. Niemand
weiß, wie es um die Kinder in diesen Haushalten steht. Was hingegen oft bekannt
ist: fehlende erzieherische Fähigkeiten der Eltern oder eine erhöhte
Gewaltbereitschaft innerhalb der Familie. Hinzu kommt, dass deren soziales Netz
mit dem Lockdown weggebrochen ist. Einrichtungen wie Schulen oder Kindergärten,
die diese Familien sonst mittragen, sind geschlossen. Auch Hausbesuche von
Mitarbeitern der Jugendämter sind nur eingeschränkt möglich.
Eltern
haben Stress, der sich kaum aushalten lässt
Die
Brisanz der Lage, auch in vielen sonst stabilen Familien, lässt sich nur
erahnen. So spricht etwa der Bundesgesundheitsminister im Kontext der
Verlängerung der Lohnfortzahlung davon, dass „viele Eltern unsere besondere
Unterstützung brauchen“. Dazu gehört aus Sicht des Ergotherapeuten Wolfgang
Scheid auch der große Bedarf an ergotherapeutischen Leistungen: „Es gibt
Eltern, die fragen, ob wir mit ihrem Kind bitte an mehreren Tagen in der Woche
arbeiten können“. Das ist so bislang nicht möglich, die Bitte aber
verständlich. Diese Familien konnten den Alltag mit ihrem Kind schon vor der
Corona-Krise nur mithilfe der professionellen Unterstützung ihres
Ergotherapeuten gut bewältigen. Denn die Auswirkungen von Lernstörungen,
geistigen oder motorischen Entwicklungsverzögerungen oder Behinderungen und
Beeinträchtigungen wie beispielsweise Autismus-Spektrum-Störungen oder ADS/
ADHS auf den Alltag einer Familie sind enorm. Nun kommen weitere Belastungen on
top, weil die Eltern ihre eigenen Sorgen haben und beispielsweise mit dem
Homeschooling überfordert sind.
Oder
die Mehrfachbelastungen von Homeoffice, Kinderbetreuung, Haushalt & Co.
nicht aushalten. „Die Aufgabe von Ergotherapeuten umfasst außer dem Arbeiten
mit dem Kind immer die Elternberatung; das nimmt derzeit einen wichtigen
Stellenwert ein“, kommentiert der Ergotherapeut die aktuellen Anforderungen und
Aussagen von Eltern wie ‚ich schaffe das nicht mehr‘. Er schätzt, dass es
unzählige Eltern gibt, die, obwohl sie ein eigentlich gesundes Kind haben,
dringend Rat und Hilfe benötigen, um einen besseren Umgang mit der Situation
und dem Verhalten des eigenen Kindes in dieser besonders herausfordernden Zeit
zu erlernen.
Angst
– ein Thema bei Groß und Klein
Der
Ergotherapeut bestärkt alle Eltern und Elternteile, besonders achtsam zu sein
und das eigene Kind sehr genau zu beobachten, mit ihm zu sprechen und jede ihm
zustehende Unterstützung anzufordern, um die familiäre Situation zu entlasten.
Der Kinderarzt ist ein geeigneter Ansprechpartner, der am besten beurteilen
kann, ob eine ergotherapeutische Intervention zielführend und eine Verordnung
in die Ergotherapie hilfreich ist – auch bei Themen, die sonst selten sind.
Wolfgang Scheid sieht in seiner Praxis zusätzlich zu dem üblichen Spektrum von
therapiebedürftigen Kindern jetzt beispielsweise mehr Kinder mit
Angstsymptomen. Er sagt: „Das sind nicht nur Kinder von Eltern, die selbst an
einer Angststörung erkrankt sind und ihrem Kind vorleben, dass ‚vor die Tür
gehen‘ gefährlich ist, sondern auch solche Kinder, die unspezifische
Angstsymptome zeigen, sich von den Eltern nicht dazu bewegen lassen, das Haus
zu verlassen und daher auch nicht zum Schulunterricht erscheinen“.
Ergotherapeuten wie Wolfgang Scheid schärfen bei Kindern, die eine Episode der
Angst durchleben, zunächst deren eigene Wahrnehmung vor allem bei der
Selbstüberwachung.
Gemeinsam
mit dem Kind finden sie heraus, wie groß die Angst ist und wann sie kommt.
Ergotherapeuten versetzen ihre kleinen Klienten in die Lage, ihre
Selbstwahrnehmung zu verbessern, das körperliche und psychische Befinden zu
ergründen, die Gefühle und Gedanken auszudrücken und Lösungsmechanismen zu
finden, um handlungsfähig zu bleiben. So lernt das Kind Schritt für Schritt mit
seiner Angst umzugehen.
Ergotherapeuten
befähigen Kinder und Eltern
Kinder
dazu bringen, etwas zu tun – das ist ein ganz großes Thema für Eltern, die
unter einem besonders hohen Druck stehen: ihr Alltag muss funktionieren, damit
sie ihre Arbeitsleistung erbringen können. Dass jetzt die Möglichkeit besteht,
die Ergotherapie-Stunde auch per Videotherapie durchzuführen, erleichtert das
Ganze. Es kostet keine zusätzliche Zeit, ein Kind in die Praxis zu bringen. Der
Ergotherapeut arbeitet mit dem Kind, während die Eltern ihren beruflichen
Belangen nachgehen.
Rechtzeitig
vor dem Ende der telemedizinischen Therapieeinheit kommen die Eltern dazu, um
sich mit dem Ergotherapeuten über den Entwicklungsstand des Kindes
auszutauschen, ihre Fragen zu stellen und selbst Hilfestellung, Tipps und
Anleitungen für den Rest der Woche zu erhalten. Parallel dazu finden auch in
den Praxen Therapieeinheiten statt, ebenso wie Hilfsmittelberatungen. Für ihren
‚neuen‘ Alltag und die Schule müssen die Kinder – auch die mit motorischen
Einschränkungen oder Defiziten – selbstständig mit einem für sie passenden
Mundschutz und Hygienemaßnahmen zurechtkommen.
Herzenswunsch
des Ergotherapeuten
Abschließend
wünscht sich Wolfgang Scheid, dass es ihm, seinen Berufskolleginnen und
-kollegen und möglichst vielen anderen Menschen gelingt, die Familien in
sozialer Not zu erreichen. „Proaktiv auf andere zugehen, das kann jeder“,
findet er „Kontakt zu den am Rand der Gesellschaft lebenden Familien und
insbesondere Alleinerziehenden aufnehmen und sie unterstützen“. Wichtig ist:
eine Brücke zu den Menschen in Not schlagen. Der Zutritt in den Privatbereich
kann Ergotherapeuten seiner Meinung nach mithilfe der Videotherapie sogar eher
gelingen – ein weiterer Grund, diese in Deutschland beizubehalten, so wie das
auch in Ländern wie Australien und Kanada gang und gäbe ist.
Text
/ Foto: Deutscher Verband der Ergotherapeuten e. V. / Janine Metzger