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Gesundheit-News: Messie-Syndrom - Wenn Gegenstände soziale Kontrolle ersetzen

1. September 2020

(ams). Zu faul zum Aufräumen? Nein, beim Messie-Syndrom handelt es sich um die Auswirkungen einer psychischen Störung, die Fachleute auch zwanghaftes Horten nennen. Aber nicht jeder, der unordentlich ist, ist ein "Messie". Ab wann ist Unordnung in der Wohnung nicht mehr normal? Warum sind die angehäuften Sachen so wichtig für die Betroffenen? Und was kann helfen? Das erklärt Birgit Lesch, Diplom-Psychologin von der AOK.

Gelesene Zeitungen, Bücher, alte Kalender, Bastelsachen, Schuhe, Kleidung, Kisten mit Fotos - in den Zimmern sogenannter Messies (von engl. "mess" = Durcheinander, Unordnung) türmen sich die verschiedensten Dinge. Manche Wohnungen sind so vollgestellt, dass sich die Betroffenen nur noch in schmalen Durchgängen darin bewegen können.

"Messies sind nicht zu faul, um aufzuräumen", betont Psychologin Lesch. "Sondern aus tieferliegenden psychischen Gründen fällt es ihnen extrem schwer, sich von Gegenständen zu trennen." Die sie umgebenden Dinge haben einen hohen emotionalen Wert für die Betroffenen: Sie geben Halt und Geborgenheit und das Gefühl, die Kontrolle über das eigene Leben zu behalten. Deshalb ist es auch wenig hilfreich, wenn andere die Wohnung aufräumen oder säubern. "Das kann panische Ängste auslösen", so die Psychologin weiter. "Für manche fühlt es sich so an, als würde ihr Leben weggeworfen."

Es kann jeden treffen

Das Messie-Syndrom ist gar nicht so selten: Schätzungsweise jeder 20. Mensch in Deutschland ist davon betroffen. Die Störung kommt zudem in allen sozialen Schichten vor: Nicht nur der Sozialleistungsempfänger, auch die Konzernchefin kann betroffen sein. Nur eine Minderheit lebt – entgegen einem gängigen Vorurteil - zwischen Essensresten, Schmutz und Müll.

Meistens sieht man Messies nicht an, welches Chaos bei ihnen zu Hause herrscht. Nach außen hin können sie gut funktionieren und im Beruf erfolgreich sein. Paradoxerweise haben sie einen Hang zum Perfektionismus, der sie allerdings regelrecht erdrückt, wenn es um die Ordnung in den eigenen vier Wänden geht.

Gewisse Unordnung ist normal

Eine gewisse Unordnung ist normal, kann sogar lebendig machen und Kreativität fördern. Und Objekte zu sammeln, gehört zu den menschlichen Bedürfnissen. Ab wann also beginnt die Unordnung krankhaft zu werden?

"Der Übergang ist fließend", sagt die Psychologin und führt ein Beispiel an: Ein Liebhaber von Technik sammelt Motoren und Maschinen, bringt alle möglichen Geräte von seinen Weltreisen mit. "Wenn die Sammelleidenschaft dahin führt, dass sich der Betroffene des Durcheinanders schämt und niemanden mehr zu sich nach Hause einlädt, dann ist die Grenze überschritten."


Im amerikanischen Klassifikationssystem der Erkrankungen gibt es inzwischen auch eine eigenständige Diagnose unter dem Begriff "Pathologisches Horten" - wenn auch Überlappungen beispielsweise mit einer Depression, Sucht- oder Zwangserkrankung oder auch einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) nicht selten sind. Ärztliche oder psychologische Psychotherapeutinnen beziehungsweise -therapeuten prüfen in der Regel, ob die Symptome mit einer anderen psychischen Erkrankung erklärt werden können oder nicht. Doch erforscht ist das Krankheitsbild noch wenig.

Offensichtlich spiegelt das äußere Chaos das innere Chaos wider. "Das Ansammeln von Gegenständen ist als Versuch zu werten, unerträgliche Gefühle zu unterdrücken", erklärt AOK-Expertin Lesch. "Ungelöste innere Konflikte sollen durch das unkontrollierte Sammeln bewältigt werden." Häufig haben die Betroffenen schon in der Kindheit einschneidende Trennungen erlebt.

"Mit dem Wegwerfen der Gegenstände kommen tiefe Verlustgefühle wieder hoch", erklärt die Psychologin. Viele Betroffene haben Probleme mit ihrem Selbstwert, sie fühlen sich wertlos. Zudem fällt auf, dass sich die Betroffenen häufig nur schwer konzentrieren können - beispielsweise aufs Aufräumen - und eine große Angst vor falschen Entscheidungen haben.

Verschüttete Gefühle und Konflikte bearbeiten

Eine Psychotherapie kann einerseits pragmatische und einfühlsame Hilfe dabei geben, wie die Betroffenen das Chaos lichten können. Andererseits können "Messies" und "Horter" mit psychotherapeutischer Unterstützung tieferliegende Ursachen angehen.

Möglicherweise kann auch ein/e Soziotherapeut/in oder eine psychiatrische Pflegekraft zu Hause Unterstützung bieten. Die Betroffenen lernen, besser zu entscheiden, was weg kann und was nicht. Ist erst einmal eine Kiste aussortiert, kann diese positive Erfahrung dazu ermuntern, weiterzumachen. Oft schwächen sich die unangenehmen Gefühle beim Wegwerfen mit zunehmender Übung ab. Die Betroffenen können zudem trainieren, ihre Aufmerksamkeit zu steigern, die fürs Ordnen und Sortieren notwendig ist.

Wichtig ist es auch, sich selbstschädigende Gedanken - wie etwa: "Ich bin nichts wert.", "Ich muss perfekt sein." - bewusst zu machen. Auch verschüttete Gefühle und Konflikte können bearbeitet werden. Eine Selbsthilfegruppe macht es möglich, die Probleme mit anderen Betroffenen zu besprechen. Letztlich können sie die Erfahrung machen, dass sie mehr sind als ein "Messie" - nämlich ein vielseitiger Mensch mit vielen positiven und negativen Seiten.



Text / Foto: AOK-Bundesverband