Foto: Onkologe Professor Christof
von Kalle
03.01.2022 – Eine Impfung gegen Krebs? Klingt wie
Science-Fiction in der Medizin, ist aber Wirklichkeit: die HPV-Impfung.
Nachweislich schützt sie vor Infektionen mit Hochrisiko-Typen des Humanen
Papillomvirus (HPV) und somit vor mindestens sechs assoziierten Krebsarten.
Darunter Gebärmutterhals-, Mund- und Rachen- oder Analkrebs. Doch Daten eines
internationalen Rankings zeigen, dass Deutschland unter den Ländern mit hohem
Einkommen bei der HPV-Impfquote bei 9- bis 14-jährigen Mädchen nur Platz 37
belegt, wie die Initiative „Vision Zero“ hervorhebt.
Eine Impfquote bei den gleichaltrigen Jungen ist eigentlich nicht existent.
Das muss sich ändern, sagt der Onkologe Professor Christof von Kalle im Pharma
Fakten-Interview.
Das Humane Papillomvirus (HPV) ist weit verbreitet – rund 80 Prozent aller
Menschen infizieren sich im Laufe ihres Lebens damit. Bei rund zehn Prozent
bleibt die Infektion bestehen, wandert dabei manchmal in das Genom von Zellen
ein und kann so Ursache für verschiedene Krebsarten sein, von denen der
Gebärmutterhalskrebs die bekannteste ist. Mit der HPV-Impfung gibt es eine gut
wirksame und sichere Maßnahme zur Verhinderung (Primärprävention) von
HPV-Infektionen und den daraus entstehenden Erkrankungen. Am wirksamsten ist
die Impfung, wenn sie vor dem ersten Sexualkontakt abgeschlossen ist; deshalb
wird sie von der Ständigen Impfkommission (STIKO) für das Alter ab neun bis 14 Jahren
empfohlen. Und nicht nur Mädchen, sondern auch Jungen sollten sich vor der
Infektion schützen.
Für eine bessere Inanspruchnahme der HPV-Impfung setzt sich Vision Zero,
eine Initiative führender Gesundheitsexpert:innen und Wissenschaftler:innen,
ein. Denn sie möchte Schritt für Schritt im Kampf gegen Krebs die Vision
umsetzen, dass jeder vermeidbare Todesfall verhindert werden sollte. So wie wir
das auch am Arbeitsplatz, in Luftfahrt und Straßenverkehr immer erfolgreicher
machen. Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats
von Vision Zero e.V. ist Professor Christof von Kalle von der Berliner Charité
und dem Berlin Institute of Health.
Prof. von Kalle: Wie sieht es aus in der Primärprävention
von HPV-induzierten Krebserkrankungen?
Prof. Christof von Kalle: Die HPV Impfung ist als sehr wirksame Impfung
gegen Krebs eine ganz tolle Sache, und zurecht mit dem Nobelpreis bedacht
worden. In der Umsetzung gibt es aber noch sehr viel zu tun, „Luft nach oben“
wäre vornehm ausgedrückt. Bei den 9- bis 14-jährigen Mädchen sind es rund 43
Prozent, die wir mit der Impfung erreichen konnten. Beziehen wir die
18-Jährigen mit ein, sind es rund 50 Prozent. Die Jungen erreichen wir im
Grunde aktuell gar nicht. Vor dem Hintergrund, dass es eine Impfung gibt, die
hochwirksam und sehr sicher ist, würde ich sagen: In Sachen Primärprävention
sieht es in Deutschland katastrophal aus. Wir sollten nicht vergessen, dass das
eine Impflücke ist, die bei Menschen irgendwann in ihrem Leben zu einer Krebserkrankung
führen kann, die sie nicht haben müssten.
Woran liegt es?
Von Kalle: Es gibt eine Menge Gründe und um die Situation zu verbessern,
müssen wir an vielen unterschiedlichen Stellschrauben drehen. Ganz allgemein
kann man sagen, dass wir in Deutschland der Prävention – also dem nachhaltigen
Managen und dem Erhalt von Gesundheit statt dem reaktiv-reparativen Behandeln
von Krankheiten – nicht den Stellenwert einräumen, den sie haben müsste. Das
gilt für das System als Ganzes, aber auch für jeden Einzelnen von uns. Wir von
Vision Zero haben deshalb ein Sechs-Punkte-Programm entwickelt, um die
Situation schnell und nachhaltig zu ändern.
Schießen Sie los…
Von Kalle: Zunächst sollte die HPV-Impfung – so wie das bei Masern der Fall
ist – als dringend eingestuft werden. Das wäre das Bekenntnis, dass wir als
Gesellschaft die Gesundheit unserer Kinder ernst nehmen. Dann brauchen wir
dringend breitflächige Aufklärung in Form von Informations-Kampagnen, die
zielgruppengerecht sein muss: Beispielsweise müssen Eltern angesprochen werden,
genauso aber Kinder und Jugendliche. Denn die Folgen einer HPV-Infektion werden
dramatisch unterschätzt – und der Nutzen der Impfung sowieso. Außerdem fordern
wir ein bundesweites, flächendeckendes Einladungs- und Erinnerungssystem. Es
muss viel leichter werden, diese wichtige Maßnahme zum Schutz der Gesundheit
eines Kindes nicht zu vergessen.
Andere Länder, z.B. Australien, Großbritannien, Kanada
oder Norwegen, setzen unter anderem auf Schulimpfungsprogramme. Funktioniert es
dort besser?
Von Kalle: Viel besser. Australien erreicht fast 80 Prozent der Mädchen und
sagenhafte 73 Prozent der Jungen. Dort ist man auf der Zielgerade, um durch
HP-Viren ausgelöste Krebserkrankungen und ihre unangenehmen Vorstufen im
kommenden Jahrzehnt praktisch auszurotten. Davon sind wir in Deutschland weit
entfernt. Deshalb fordern wir dringend die Implementierung niederschwelliger
Angebote beispielsweise durch Schulprogramme, aber auch ein
Nachholimpfprogramm, z.B. beim ersten Frauenarztbesuch. Es reicht einfach nicht,
ein hochwirksames Instrument wie diese Impfung theoretisch zur Hand zu haben –
wir müssen die Impfung tatsächlich zu den Menschen bringen. Aber auch bei der
allgemeinen Aufklärung über HPV hapert es aktuell.
Welche Rolle spielen Ärzt:innen?
Von Kalle: Eine entscheidende. Sie sind diejenigen, die die Kinder und ihre
Eltern informieren und überzeugen können. Aber dafür müssen wir auch im System
einiges ändern. Impfungen verhindern Krankheiten, bevor sie entstehen. Aber ob
jemand sich impfen lässt, hängt immer noch sehr vom Zufall ab. Deshalb müssen
wir die regelmäßige Überprüfung des Impfstatus als Standard etablieren. Es wäre
extrem weise und nachhaltig, den präventiven und gesundheitserhaltenden Ansatz
als Maß der Dinge zu sehen und wir brauchen auch speziell für HPV entsprechende
Beratungsangebote. Und das Gespräch, die Durchführung und Betreuung des
Impfschutzes darf für die Ärztinnen und Ärzte nicht weiter ein Zuschussgeschäft
sein.
Außerdem fordern Sie ein nationales Impfregister. Warum?
Von Kalle: Wie heißt es so schön? Denn sie wissen nicht, was sie tun… Was
ich nicht zählen kann, kann ich nicht verstehen. Wir tun uns in Deutschland
sogar bei der Frage schwer, wie hoch die Impfquote bei HPV wirklich ist. Die
Zahlen, die wir heute nutzen, sind zwei bis drei Jahre alt. Andere Länder wie
z.B. Schweden und Großbritannien führen Registerstudien durch. Das neueste
Lancet-Paper aus Großbritannien belegt eine deutlich über 90-prozentige
Schutzwirkung bei allen tatsächlich Geimpften. Auch durch die Registerstudie in
Schweden konnte man feststellen, dass geimpfte Frauen gegenüber ungeimpften ein
um 63 Prozent niedrigeres Risiko haben, an einem Gebärmutterhalskrebs zu
erkranken. Wissen ist die Grundlage dafür, dass wir der HPV-Impfung endlich den
Platz einräumen können, den sie haben muss.
Text / Foto: PHARMA FAKTEN / BIH/Stefan Zeitz