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Gesundheit-News: HIV - Wähnen sich Heterosexuelle zu sehr in Sicherheit?

12. März 2022

2020 haben in England mehr heterosexuelle Menschen eine HIV-Diagnose erhalten als schwule und bisexuelle Männer. Diese Daten der „UK Health Security Agency“ zeigen: Es braucht ein Umdenken, soll HIV nachhaltig eingedämmt werden – in der Politik, in der Bevölkerung, im Gesundheitswesen. Denn Strategien, die vor allem auf klassische Risikogruppen abzielen, genügen nicht. Das gilt auch für Deutschland.

„Als ich vor über 25 Jahren die Diagnose HIV erhielt, gab man mir noch acht Jahre“, erzählt Ian Green, Geschäftsführer des „Terrence Higgins Trust“ – eine britische Wohltätigkeitsorganisation im Bereich HIV und sexuelle Gesundheit. In der britischen Tageszeitung „The Guardian“ schreibt er: „Die Situation von mir und meinen Freunden schien hoffnungslos.“ Doch „wie durch ein Wunder wurden im selben Jahr meiner Diagnose wirksame Therapien verfügbar – das bedeutete, dass ich leben und all die Dinge tun konnte, von denen ich dachte, dass ich dazu nie die Gelegenheit bekommen würde.“ Inzwischen ist er über 50 Jahre alt. Der „medizinische Durchbruch von 1996“ machte aus einem Todesurteil eine chronische Krankheit.

HIV-Übertragungen verhindern – dank medizinischer Fortschritte

Trotzdem: Die Infektionsraten unter Männern, die Sex mit Männern haben (MSM), blieben lange Zeit hoch. Umso mehr stellen folgende Daten eine Zäsur dar: In England entfielen im Jahr 2020 45 Prozent der neuen Diagnosen auf schwule und bisexuelle Männer; ein größerer Teil (rund 50 %) betraf Heterosexuelle.

Der Grund ist nicht etwa ein enormer Anstieg von HIV unter heterosexuellen Menschen. „Stattdessen ist es in erster Linie das Ergebnis eines starken, kontinuierlichen Rückgangs der Diagnosen unter schwulen und bisexuellen Männern“.

Die Entwicklung führt Green hauptsächlich auf drei große Veränderungen im vergangenen Jahrzehnt zurück – sie alle haben einen gemeinsamen Nenner. Er lautet: medizinischer Fortschritt. „Erstens werden wir immer besser in Sachen HIV-Testung […]. Einst warteten wir Wochen auf das Testergebnis – nun können 15 Minuten ausreichen.“ Zweitens wird die HIV-Präexpositionsprophylaxe (PrEP) gerade in der schwulen Community genutzt. Sie ist „hoch effektiv, um sich vor HIV zu schützen“. Und drittens: „Wir behandeln Menschen mit HIV nun so früh wie möglich nach ihrer Diagnose.“ Die Folge: Das Virus wird innerhalb kürzester Zeit unter die Nachweisgrenze gedrückt – es ist nicht mehr übertragbar. Nicht einmal beim Geschlechtsverkehr. „Ich zum Beispiel habe 100 Prozent Vertrauen darin, dass ich HIV nicht an meinen Ehemann übertragen kann – und ihm geht es genauso“, so Green.

HIV-Strategien ausweiten

Die aktuellen Zahlen sind für Green ein Beleg dafür, dass die bisherigen Strategien, die vor allem auf Risikogruppen ausgerichtet waren, funktionieren. Nun muss die Arbeit im Kampf gegen HIV nicht nur fortgeführt, sondern auch ausgeweitet werden.

Im Magazin stern heißt es dazu: „Großbritannien hat sich das Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2030 die Zahl der Neuinfektionen mit HIV auf null zu senken – und die stetig sinkende Zahl der Ansteckungen lässt dieses Vorhaben inzwischen tatsächlich möglich erscheinen. Doch während die meisten homosexuellen Menschen einen aktiven Beitrag leisten, um vorzusorgen und sich und andere zu schützen, muss bei Heterosexuellen offenbar noch mehr Aufklärungsarbeit geleistet und über Vorsorgemöglichkeiten informiert werden.“ Geschieht das nicht, kann das fatale Folgen haben: Laut den Daten aus England laufen vor allem Heterosexuelle Gefahr, erst spät – wenn das Immunsystem schon geschädigt wurde – eine Diagnose zu erhalten.

Ian Green fordert: „Wir müssen mehr Menschen, öfter und an mehr Orten testen – unabhängig von der Geschlechtsidentität, Sexualität, Ethnie oder sonst was.“ Bietet man HIV-Tests für alle an, normalisiert sich ihr Gebrauch – und das reduziert das Stigma. Außerdem wünscht er sich erweiterte Angebote für die PrEP-Nutzung. Und: „Wir müssen sicherstellen, dass alle Beschäftigten im Gesundheitswesen ein solides Grundwissen über HIV haben – aus eigener Erfahrung weiß ich, dass das zu oft nicht der Fall ist. Wenn zum Beispiel jemand mit Symptomen eines geschwächten Immunsystems – wie Soor oder Lippen-Herpes – vorstellig wird, braucht es Allgemeinmediziner, die einer weißen, heterosexuellen Großmutter einen HIV-Test genauso empfehlen wie sie es womöglich bei einem schwulen Mann täten.“

Gegen das HIV-Stigma

Das gilt übrigens auch für Deutschland: Hier haben „der Ausbau von zielgruppenspezifischen Testangeboten und ein früherer Behandlungsbeginn“ ebenfalls Erfolge gezeigt, so das Robert Koch-Institut (RKI). Zudem nutzen immer mehr Menschen die HIV-PrEP. Die Zahl der geschätzten Neuinfektionen ist von 2019 auf 2020 gesunken – und liegt bei rund 2.000 Fällen. Gerade in der Gruppe der MSM (1.100) ist ein deutlicher Rückgang (-300) zu sehen. Aber: Der Trend bei Menschen, die sich auf heterosexuellem Weg infiziert haben, sieht anders aus. 2020 kam das etwa 530-mal vor – das RKI sieht seit 2013 einen Anstieg, wenn auch auf „niedrigem Niveau“.

„Wir haben alle Instrumente – Tests zur Diagnose, wirksame sowie gut verträgliche Medikamente zur Behandlung, die PrEP zur Vorbeugung – um der HIV-Epidemie ein Ende zu setzen. Doch noch hinkt die Gesellschaft dem medizinischen Fortschritt hinterher“, kommentiert Martin Flörkemeier vom forschenden biopharmazeutischen Unternehmen Gilead Sciences. „Stigmatisierung, Vorurteile sowie Fehlinformationen verhindern, dass Menschen sich testen lassen und eine Therapie erhalten. Was es braucht? Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung. Nicht nur in den Risikogruppen. Denn HIV geht alle an.“

 

Text / Foto: Pharma Fakten e.V.