2020 haben in England mehr heterosexuelle
Menschen eine HIV-Diagnose erhalten als schwule und bisexuelle Männer. Diese
Daten der „UK Health Security Agency“ zeigen: Es braucht ein Umdenken, soll HIV
nachhaltig eingedämmt werden – in der Politik, in der Bevölkerung, im
Gesundheitswesen. Denn Strategien, die vor allem auf klassische Risikogruppen
abzielen, genügen nicht. Das gilt auch für Deutschland.
„Als ich vor über 25 Jahren die Diagnose
HIV erhielt, gab man mir noch acht Jahre“, erzählt Ian Green, Geschäftsführer
des „Terrence Higgins Trust“ – eine britische Wohltätigkeitsorganisation im
Bereich HIV und sexuelle Gesundheit. In der britischen Tageszeitung „The
Guardian“ schreibt er: „Die Situation von mir und meinen Freunden schien
hoffnungslos.“ Doch „wie durch ein Wunder wurden im selben Jahr meiner Diagnose
wirksame Therapien verfügbar – das bedeutete, dass ich leben und all die Dinge
tun konnte, von denen ich dachte, dass ich dazu nie die Gelegenheit bekommen
würde.“ Inzwischen ist er über 50 Jahre alt. Der „medizinische Durchbruch von
1996“ machte aus einem Todesurteil eine chronische Krankheit.
HIV-Übertragungen verhindern – dank
medizinischer Fortschritte
Trotzdem: Die Infektionsraten unter
Männern, die Sex mit Männern haben (MSM), blieben lange Zeit hoch. Umso mehr
stellen folgende Daten eine Zäsur dar: In England entfielen im Jahr 2020 45
Prozent der neuen Diagnosen auf schwule und bisexuelle Männer; ein größerer
Teil (rund 50 %) betraf Heterosexuelle.
Der Grund ist nicht etwa ein enormer
Anstieg von HIV unter heterosexuellen Menschen. „Stattdessen ist es in erster
Linie das Ergebnis eines starken, kontinuierlichen Rückgangs der Diagnosen
unter schwulen und bisexuellen Männern“.
Die Entwicklung führt Green hauptsächlich
auf drei große Veränderungen im vergangenen Jahrzehnt zurück – sie alle haben
einen gemeinsamen Nenner. Er lautet: medizinischer Fortschritt. „Erstens werden
wir immer besser in Sachen HIV-Testung […]. Einst warteten wir Wochen auf das
Testergebnis – nun können 15 Minuten ausreichen.“ Zweitens wird die
HIV-Präexpositionsprophylaxe (PrEP) gerade in der schwulen Community genutzt.
Sie ist „hoch effektiv, um sich vor HIV zu schützen“. Und drittens: „Wir
behandeln Menschen mit HIV nun so früh wie möglich nach ihrer Diagnose.“ Die
Folge: Das Virus wird innerhalb kürzester Zeit unter die Nachweisgrenze
gedrückt – es ist nicht mehr übertragbar. Nicht einmal beim Geschlechtsverkehr.
„Ich zum Beispiel habe 100 Prozent Vertrauen darin, dass ich HIV nicht an
meinen Ehemann übertragen kann – und ihm geht es genauso“, so Green.
HIV-Strategien ausweiten
Die aktuellen Zahlen sind für Green ein
Beleg dafür, dass die bisherigen Strategien, die vor allem auf Risikogruppen
ausgerichtet waren, funktionieren. Nun muss die Arbeit im Kampf gegen HIV nicht
nur fortgeführt, sondern auch ausgeweitet werden.
Im Magazin stern heißt es dazu:
„Großbritannien hat sich das Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2030 die Zahl der
Neuinfektionen mit HIV auf null zu senken – und die stetig sinkende Zahl der
Ansteckungen lässt dieses Vorhaben inzwischen tatsächlich möglich erscheinen.
Doch während die meisten homosexuellen Menschen einen aktiven Beitrag leisten,
um vorzusorgen und sich und andere zu schützen, muss bei Heterosexuellen
offenbar noch mehr Aufklärungsarbeit geleistet und über Vorsorgemöglichkeiten
informiert werden.“ Geschieht das nicht, kann das fatale Folgen haben: Laut den
Daten aus England laufen vor allem Heterosexuelle Gefahr, erst spät – wenn das
Immunsystem schon geschädigt wurde – eine Diagnose zu erhalten.
Ian Green fordert: „Wir müssen mehr
Menschen, öfter und an mehr Orten testen – unabhängig von der
Geschlechtsidentität, Sexualität, Ethnie oder sonst was.“ Bietet man HIV-Tests
für alle an, normalisiert sich ihr Gebrauch – und das reduziert das Stigma.
Außerdem wünscht er sich erweiterte Angebote für die PrEP-Nutzung. Und: „Wir
müssen sicherstellen, dass alle Beschäftigten im Gesundheitswesen ein solides
Grundwissen über HIV haben – aus eigener Erfahrung weiß ich, dass das zu oft
nicht der Fall ist. Wenn zum Beispiel jemand mit Symptomen eines geschwächten
Immunsystems – wie Soor oder Lippen-Herpes – vorstellig wird, braucht es
Allgemeinmediziner, die einer weißen, heterosexuellen Großmutter einen HIV-Test
genauso empfehlen wie sie es womöglich bei einem schwulen Mann täten.“
Gegen das HIV-Stigma
Das gilt übrigens auch für Deutschland:
Hier haben „der Ausbau von zielgruppenspezifischen Testangeboten und ein
früherer Behandlungsbeginn“ ebenfalls Erfolge gezeigt, so das Robert
Koch-Institut (RKI). Zudem nutzen immer mehr Menschen die HIV-PrEP. Die Zahl
der geschätzten Neuinfektionen ist von 2019 auf 2020 gesunken – und liegt bei
rund 2.000 Fällen. Gerade in der Gruppe der MSM (1.100) ist ein deutlicher
Rückgang (-300) zu sehen. Aber: Der Trend bei Menschen, die sich auf
heterosexuellem Weg infiziert haben, sieht anders aus. 2020 kam das etwa
530-mal vor – das RKI sieht seit 2013 einen Anstieg, wenn auch auf „niedrigem
Niveau“.
„Wir haben alle Instrumente – Tests zur
Diagnose, wirksame sowie gut verträgliche Medikamente zur Behandlung, die PrEP
zur Vorbeugung – um der HIV-Epidemie ein Ende zu setzen. Doch noch hinkt die
Gesellschaft dem medizinischen Fortschritt hinterher“, kommentiert Martin
Flörkemeier vom forschenden biopharmazeutischen Unternehmen Gilead Sciences.
„Stigmatisierung, Vorurteile sowie Fehlinformationen verhindern, dass Menschen
sich testen lassen und eine Therapie erhalten. Was es braucht? Aufklärung,
Aufklärung, Aufklärung. Nicht nur in den Risikogruppen. Denn HIV geht alle an.“
Text / Foto: Pharma Fakten e.V.