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BARMER Sachsen-Anhalt: Viele pflegende Angehörige sind überlastet


BARMER-Pflegereport 2018


 

Magdeburg/Halle, 14. Dezember 2018 – Dem Pflegenotstand in Deutschland droht nicht nur durch den Fachkräftemangel eine dramatische Verschärfung: Laut dem neuen BARMER-Pflegereport steht jede 14. Person, die heute Angehörige zu Hause pflegt, kurz davor, diesen Dienst am Nächsten zu beenden. Das geht aus den Ergebnissen einer repräsentativen Befragung von rund 1.900 pflegenden Angehörigen hervor. 6,6 Prozent der pflegenden Angehörigen wollen nur mit mehr Unterstützung weiter pflegen, knapp ein Prozent will dies auf keinen Fall länger tun. Allein in Sachsen-Anhalt sind damit nach Hochrechnung der BARMER etwa 5.500 Angehörige von der Pflege erschöpft – sie stehen kurz davor, dass Handtuch zu werfen. „Viele pflegende Angehörige sind an der Grenze der Belastbarkeit angekommen. Es ist höchste Zeit, dass sie schon frühzeitig besser unterstützt, umfassend beraten und von überflüssiger Bürokratie entlastet werden“, sagte Axel Wiedemann (Foto), Landesgeschäftsführer der BARMER in Sachsen-Anhalt, bei der Vorstellung des Pflegereports 2018 am Donnerstag in Halle. Laut der Erhebung wünschen sich fast 60 Prozent der Befragten weniger Bürokratie bei der Beantragung von Leistungen. Deshalb wird es bei der BARMER in Kürze möglich sein, den Hauptantrag für Pflegeleistungen unkompliziert online zu stellen.

 

In der Rolle als Pflegende gefangen


Doch der bürokratische Aufwand ist nur eine Form der Belastung: Bei 85 Prozent der Betroffenen bestimmt die Pflege täglich das Leben, fast 40 Prozent fehlt Schlaf, 30 Prozent fühlen sich in ihrer Rolle als Pflegende gefangen. In zwei Drittel aller Fälle übernehmen Frauen die Arbeit, in einem Drittel Männer. 38 Prozent der Hauptpflegepersonen sind 70 Jahre und älter. Die Familien seien damit „Deutschlands größter Pflegedienst“, sagte Wiedemann. „Ohne ihren unschätzbaren Dienst würde das System zusammenbrechen“, so der BARMER-Landesgeschäftsführer.

 

Von 1999 bis 2017 stieg die Zahl der Pflegebedürftigen in Sachsen-Anhalt von 67.000 auf 110.000 – das sind inzwischen knapp fünf Prozent aller Einwohner. Deshalb werden auch immer mehr Menschen gebraucht, die Angehörige pflegen. Allein von 2015 zu 2017 ist die Zahl der Pflegebedürftigen mit pflegenden Angehörigen in Sachsen-Anhalt um zwölf Prozent gestiegen – von 65.000 auf 74.000 Personen. Insgesamt werden rund 70 Prozent der Pflegebedürftigen von Angehörigen betreut – was gerade im ländlichen Raum auch mit geringer ausgeprägten Versorgungsstrukturen im Vergleich zu den Ballungsräumen zu erklären sein könnte. „Die pflegenden Familienmitglieder sind ein sehr wichtiger Pfeiler unseres Pflegesystems. Oft kommen dabei jedoch ihre eigenen Bedürfnisse zu kurz und sie werden krank“, sagte Wiedemann.

 

Belastung schlägt auf die Gesundheit


Pflegende Angehörige sind vergleichsweise häufiger krank als andere. So leiden in Sachsen-Anhalt mehr als die Hälfte (59 Prozent) von ihnen unter Rückenbeschwerden. Nur in Brandenburg und Thüringen (60 Prozent) ist dieser Wert noch höher. Bei Personen, die niemanden pflegen, trifft dies nur auf rund 50 Prozent zu. Ähnlich verhält es sich bei Depressionen: Während der Anteil der Erkrankten unter den pflegenden Angehörigen in Sachsen-Anhalt bei rund 22 Prozent liegt, sind es bei Personen, die niemanden pflegen, nur 17 Prozent. Insgesamt leidet in Deutschland jeder zweite pflegende Angehörige unter einer psychischen Störung.

 

Die zahlreichen Unterstützungsangebote wie Kurzzeit- und Verhinderungspflege oder Haushaltshilfen werden von den pflegenden Angehörigen zwar überwiegend positiv bewertet, allerdings sehr wenig genutzt. Viele Pflegende wissen nicht, wo sie Hilfe erhalten können. Dies müsse sich ändern, fordert Wiedemann. Die vernetzte Pflegeberatung in Sachsen-Anhalt könne Betroffenen Unterstützungsmöglichkeiten aufzeigen. Nicht nur eine umfassende, frühzeitige Beratung durch Pflegeexperten sei relevant, sondern auch ein niedrigschwelliger Zugang zu den Unterstützungsleistungen. „Dabei ist es wichtig, dass Pflegepersonen nicht nur für ihren Angehörigen, sondern auch für sich selbst Hilfe bekommen. Um ihnen den Alltag zu erleichtern, bietet die BARMER für ihre Versicherten kostenlos das Seminar ‚Ich pflege – auch mich‘ an. In mehreren Modulen lernen die Teilnehmer, wie sie sich trotz der anstrengenden Pflegesituation entlasten können“, so Wiedemann.

 

Den Pflegealltag erleichtern


Doch nicht nur Seminare und Beratungsangebote helfen Pflegenden, auch Kommunikations- und Assistenzsysteme können unterstützend sein. An der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle (Saale) wird erforscht, welche technischen Hilfsmittel pflegende Angehörige im Alltag entlasten können. Mittels Selbsterfahrung in einem eigens dafür eingerichteten Zukunftslabor können professionelle Pflegekräfte und pflegende Angehörige geschult werden. In diesem geschützten Lernort wird das Erleben, Erlernen und Erforschen aktueller und zukünftig erwerbbarer Assistenztechnologien ermöglicht. „Die Qualifizierung von pflegenden Angehörigen nimmt angesichts der Herausforderungen des demografischen Wandels eine Schlüsselrolle ein. Es ist eine große Herausforderung, die Selbstständigkeit im Lebensumfeld des Pflegebedürftigen so lange wie möglich zu erhalten“, sagte Dr. Patrick Jahn, Leiter der Stabsstelle Pflegeforschung an der Uni Halle.

 

Im Zukunftslabor kommt unter anderem ein Tablet mit fahrbarem Untersatz zum Einsatz, welches per Fernsteuerung durch die Wohnung bewegt werden kann. So können Angehörige den Pflegebedürftigen von unterwegs aus im Blick behalten. Auch eine Tablettendose, die zu jeder Tageszeit die passenden Medikamente ausgibt und per SMS mit den Angehörigen kommuniziert, wird erprobt. „Es zeigt sich, dass pflegende Angehörige gegenüber technischen Assistenzsystemen in hohem Maße aufgeschlossen sind“, sagte Jahn. Dennoch fehle einer großen Zahl das Wissen und die Kompetenz zum bedarfsgerechten und sinnvollen Einsatz in der pflegerischen Versorgung. „Aus diesem Grund sind neue Standards zur Integration von Pflegeassistenztechniken in Bildungsangeboten für angehende Pflegekräfte, Ärzte sowie pflegende Angehörige zu entwickeln und vernetzend im System zu etablieren. Hierzu bedarf es einer engen Zusammenarbeit von allen Akteuren in der Gesundheitsversorgung“, so Jahn.