München (ots). Verschobene
Früherkennungsuntersuchungen, verspäteter Therapiebeginn, ausgesetzte
Nachsorgetermine: So machte sich die Coronavirus-Krise in der Krebsversorgung
bemerkbar. Experten von Deutscher Krebshilfe, Deutscher Krebsgesellschaft und Deutschem
Krebsforschungszentrum zeigten sich besorgt. Sie befürchten, dass dem
Gesundheitssystem in Folge der Pandemie eine erhöhte Zahl an zu spät erkannten
Tumoren bevorsteht - ein ungünstiger Ausgangspunkt bei einer lebensbedrohlichen
Erkrankung.
Dabei lässt sich auf lange Sicht so einiges
aus dem Coronavirus - oder besser gesagt: aus dem Umgang mit ihm - lernen, um
den Kampf gegen Krebs erfolgreicher zu machen.
Ein Interview mit den beiden Onkologen
Prof. Dr. Christof von Kalle und Prof. Dr. Michael von Bergwelt.
COVID-19 dominiert seit einigen Monaten die
mediale Berichterstattung. Gleichzeitig ist Krebs nach wie vor die
zweithäufigste Todesursache in Deutschland. Gibt es Parallelen zwischen diesen
beiden Gesundheitskrisen?
Prof. Dr. Christof von Kalle: Der Krebstod ist nicht neu, er ist nicht ansteckend und er ist
nicht jahreszeitlich bedingt. Wir haben uns leider seit langem an ihn gewöhnt.
Aber bei genauerem Nachdenken erkennt man zwei wesentliche Verbindungen zur
Coronavirus-Pandemie.
Zum einen sind die Risikogruppen für beide
Erkrankungen sehr ähnlich: Menschen in den goldenen Jahren, insbesondere mit
Risikofaktoren wie Adipositas, Lungen- und Herzkreislauferkrankungen. Auch ein
deutlich geringerer, aber trauriger Anteil junger Menschen - wahrscheinlich mit
genetischen und anderen Prädispositionen - wird viel zu früh aus dem Leben
gerissen. Zum anderen ist das Ausmaß der potenziell vermeidbaren Todesfälle aus
beiden Erkrankungen vergleichbar. Selbst in den am schlimmsten betroffenen
Ländern sind vermeidbare Krebstodesfälle wahrscheinlich auch im Jahr 2020 noch
häufiger als die Pandemieopfer des Virus.
Welche Lehren sollten wir in Ihren Augen
aus der Coronavirus-Krise für den Kampf gegen Krebs ziehen?
Prof. Dr. Michael von Bergwelt: Auch wenn es im Augenblick noch verfrüht wäre eine endgültige
Bilanz zu ziehen, stechen zwei Merkmale besonders hervor. Erstens hat uns die
Pandemie klar vor Augen geführt: Gute Vorbeugung ist manchmal teuer, meistens
preiswert, aber im richtigen Moment immer unbezahlbar. Menschen hier mitten in
Europa - und noch deutlich mehr anderswo auf der Welt - mussten fehlende
Vorbereitung und mangelhafte Umsetzung, die meist weder teuer noch besonders
belastend gewesen wäre, mit dem Leben bezahlen. Zweitens müssen wir davon
ausgehen, dass unsere Unfähigkeit schnell zu durchschauen, wer wann und wo
erkrankt ist, oder welche Medikamente besonders empfänglich, oder besonders
resistent machen, auch in Deutschland zahlreichen Menschen das Leben gekostet
hat. Hier müssen wir ansetzen: Wir brauchen eine patientenzentrierte
Verarbeitung unserer Gesundheitsdaten, denn diese können einen entscheidenden
Beitrag zum Schutz des Einzelnen leisten.
Von Kalle: Diese beiden Aussagen treffen auch auf die Vorbeugung
vermeidbarer Krebstodesfälle zu. Wir verlieren jedes Jahr mehr als 20.000
Menschen an den Darmkrebs, der zu guten Teilen zu verhindern wäre, wenn wir nur
die bestehenden Möglichkeiten dazu ausschöpfen würden. Und der in Deutschland
weiterhin mit riesigem finanziellem Aufwand beworbene Zigarettenkonsum ist nach
wie vor Todesursache Nummer eins.
Warum ist das so - und wie lässt sich das
ändern?
Von Kalle: Prävention, die dies verhindert, ist nicht Teil eines fest
definierten Aufgabenspektrums in unserem Gesundheitswesen. Prävention hat im organisatorischen
Sinn keinen Eigentümer, keine Institution, die sie verantwortet und bundesweit
mit klaren Konzepten handlungsfähig ist. Wir sollten es uns also zur Aufgabe
machen, diesen unbefriedigenden Zustand nachhaltig zu ändern, mit einer
"Vision Zero" im Blick, deren Ziel es sein muss, jeden vermeidbaren
Todesfall durch rechtzeitige Prävention und Früherkennung zu verhindern.
Was heißt das konkret?
Von Bergwelt: Es gilt, aus den Erfahrungen, die mit dem Coronavirus gemacht
wurden, zu lernen - und dieses schmerzhaft Erlernte konsequent im Kampf gegen
Krebs anzuwenden. Das heißt: Die Umsetzung von Prävention und Frühdiagnostik
muss verantwortlich organisiert und mit Ressourcen ausgestattet sein. Denn: Nur
Verhindern oder früh Behandeln ist wirklich wirksam. Ein gutes Beispiel ist
etwa das Darmkrebs-Screening, das als organisiertes Programm gestaltet wird.
Alle Versicherte ab dem Alter von 50 Jahren erhalten über dieses Programm von
ihrer Krankenkasse ein persönliches Einladungsschreiben zur Darmkrebsfrüherkennung.
Außerdem brauchen wir ein Werbeverbot und eine Präventionsabgabe für
Tabakprodukte. Wir zeigen Tabakwerbung klar die rote Karte; auch bei
Krebsauslösern gilt das Verursacherprinzip.
Von Kalle: Darüber hinaus hat der Bürger das Recht auf eine Demokratisierung
neuer Behandlungsverfahren. Wir brauchen einen einheitlichen, schnellen Zugang
zu moderner Präzisionsdiagnostik und innovativen Therapiekonzepten. Die besten
Therapien müssen überall im Land erreichbar sein. Und es gilt: Die
transparente, effektive und patientenzentrierte Verarbeitung von
Gesundheitsdaten generiert medizinisches Wissen aus der Versorgung. Datenschutz
ist Patientenschutz. Nicht ausgewertete Daten sind lebensgefährlich.
Von Bergwelt: Dringend müssen auch die Nebenwirkungen und Kollateralschäden
aus den Pandemiebeschränkungen erforscht und behoben werden. Denn die
Quarantäne darf nicht zu Lasten der Krebsprävention und -therapie gehen.
Führende Onkologen - Sie eingeschlossen - haben im Kampf gegen Krebs eine Initiative mit dem Titel "Vision-Zero-2020" gegründet. Was bedeutet das genau?
Von Kalle: Unser Credo lautet: Jeder vermeidbare Krebstod ist einer zu
viel. Dies zu verhindern ist nicht einfach, und bedeutet viele kleine Schritte
in die gleiche Richtung zu gehen. Vision Zero heißt jeden Stein umzudrehen.
Text: PHARMA FAKTEN