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Politik-News: Zusammen wachsen - Antrittsrede von Bundesratspräsident Bodo Ramelow

In einer bundespolitischen Zwischen- und Umbruchszeit mit großen Herausforderungen hat Bodo Ramelow die Bundesratspräsidentschaft übernommen. In seiner Antrittsrede in der Plenarsitzung am 5. November 2021 betonte er, dass es wichtig sei, Widerspruche zu benennen. Gestritten werden müsse aber kulturvoll und mit Respekt vor der Meinung der anderen. Mit dem Motto der Präsidentschaft „zusammen wachsen“ appelliert er, „das Verbindende, nicht das Trennende, in den Mittelpunkt unseres Denkens und Handelns zu stellen“.

- Es gilt das gesprochene Wort -

Anrede,

der Freistaat Thüringen übernimmt in bewegten Zeiten die Bundesratspräsidentschaft von seinem mitteldeutschen Nachbarn Sachsen-Anhalt.

Ich danke zunächst von Herzen meinem Amtsvorgänger, Herrn Ministerpräsident Reiner Haseloff, für seine Amtsführung. Herr Kollege Haseloff, Sie leiteten dieses Verfassungsorgan in einer Zeit, als wir in kurzfristig anberaumten Sitzungen und in absoluter Mindestbesetzung der Länderbänke milliardenschwere Entscheidungen zu treffen hatten. Es ist ganz gewiss auch Ihr Verdienst, wenn unser Land aus der Pandemie nicht geschwächt, sondern gestärkt hervorgeht.

In diesen Dank schließe ich alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundesratsverwaltung ein. Wie auch die Bevollmächtigten der Länder und die vielen Kolleginnen und Kollegen der Vertretungen der Länder beim Bund. Sie alle tragen durch intensive Vorbereitungen dafür Sorge, dass inzwischen mehr als 1.000 Sitzungen dieses Verfassungsorgans solide und erfolgreich absolviert wurden.

Die Vertreterinnen und Vertreter der Bundesregierung, die unseren Bundesratssitzungen beiwohnen, äußern sich mitunter erstaunt und zuweilen auch etwas belustigt über den Unterschied zur Debattenkultur des Deutschen Bundestages. Vermutlich sind die Reden, die die Republik bewegten, tatsächlich vornehmlich im Bundestag gehalten worden. Und der sehr dezente Beifall, der aus der besonderen Rolle der Länderkammer resultiert, mag antiquiert anmuten.

Doch wer die Debatten dieses Bundesrates beispielsweise zur Energiepolitik verfolgt, erhält einen Einblick in die Vielfalt unseres Landes. Sowohl der politischen als auch der regionalen Interessen, Gemeinsamkeiten und Widersprüche. Vom Ausbau der Offshore-Windanlagen im Norden über die Schwierigkeiten, eine faire Verteilung der regionalen Belastungen durch den Netzausbau und die angemessene Wegeführung durch die Mitte Deutschlands zu finden.

Angestoßen durch Ministerpräsident Günther in der Bundesratspräsidentschaft Schleswig-Holsteins haben wir unsere Arbeitsweise angepasst. Redezeitempfehlungen, elektronische Auszählhilfen und eine stärkere Transparenz des Abstimmungsverhaltens der Länder haben den Bundesrat gestärkt. Wir haben die Fähigkeit verbessert, auf die vor uns liegenden Herausforderungen schneller und angemessener zu reagieren.

Die Herausforderungen sind groß. Und man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass sich widersprechende Interessenlagen eher zunehmen als abnehmen werden.

Die Thüringer Bundesratspräsidentschaft beginnt – bundespolitisch gesehen – in einer Art „Zwischenzeit“. In einer solchen Situation befanden wir uns zuletzt am Beginn der Berliner Bundesratspräsidentschaft des Kollegen Müller. Ihm wünsche ich für seine künftige Tätigkeit im Deutschen Bundestag alles erdenklich Gute.

Die künftige Bundesregierung steht vor der Herkulesaufgabe, die ökologische und digitale Modernisierung voranzubringen.

Voranzubringen in einem Umfang und einer Geschwindigkeit, die uns allen viel abverlangen werden. Und voranzubringen unter der Maßgabe der gleichwertigen Lebensverhältnisse in allen Teilen unserer Bundesrepublik Deutschland. Wir haben gemeinsam in diesem Hohen Hause in der Corona-Pandemie Regelungen zur Planungsbeschleunigung, zur elektronischen Akten- und Verfahrensführung getroffen. Denn auch unter den Bedingungen des Lockdowns sollten Planungsverfahren vorangetrieben und abgeschlossen werden können. Diese Erfahrungen dürfen wir nicht wieder ad acta legen. Wir müssen sie vielmehr transformieren, um die notwendige nachholende digitale und ökologische Modernisierung erfolgreich umzusetzen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

wir Politikerinnen und Politiker tragen in solchen Situationen stets ein zuversichtliches Lächeln im Gesicht. Wir haben entschlossene Worte auf den Lippen und klopfen auf unsere Tasche. In der – so behaupten wir zumindest – liegt wenigstens ein fertiger Plan, wenn nicht gleich mehrere. Meine Erfahrung ist, dass diese Haltung nicht mehr zeitgemäß ist. Im Umbruch hängen Erfolg und Zusammenhalt von vielen Brückenbauern ab. Oft ist es eben nicht so, dass auf der einen Seite die stehen, die anpacken, und auf der anderen die, die Sorgen artikulieren.

Die vergangenen Jahre haben vielmehr gezeigt, dass der Wandel nur gestaltet werden kann, wenn Gegensätze ausgehalten und im Dialog transparent gemacht werden. Wenn die Benennung eines Widerspruchs und seine Akzeptanz – auch und gerade im Streit – erste und wichtige Schritte zur Kompromissbildung sind. Haben wir keine Sorge vor Streit. Auch nicht vor grundsätzlichen Kontroversen. Aber streiten wir kulturvoll und mit Respekt vor der Meinung der anderen. Und mit der Anerkennung von Fakten – auch wenn sie uns nicht gefallen. In diesem Sinne habe ich die diesjährige Bundesratspräsidentschaft unter das Motto „zusammen wachsen“ gestellt. Es geht mir dabei um zweierlei: das Zusammenwachsen von Ost und West aber genauso auch um unsere Fähigkeit, gemeinsam als Bundesrepublik Deutschland in all ihren Regionen und Landesteilen nachhaltig Wachstum zu gestalten.

Wie die Länder Brandenburg und Sachsen-Anhalt, deren Ministerpräsidenten in den vergangenen beiden Amtsperioden den Bundesrat präsidierten, ist auch der Freistaat Thüringen – gemessen an allen sozioökonomischen Daten – in guter Verfassung. Doch wir sind nach wie vor konfrontiert mit einem merkwürdigen Auseinanderklaffen der Wahrnehmung der positiven aktuellen Lage unserer Länder einerseits und dem Blick auf die vergangenen drei Jahrzehnte ostdeutscher Transformation andererseits. Nicht nur in Thüringen, sondern in Ostdeutschland insgesamt sind sich oftmals Menschen, denen es wirtschaftlich und finanziell gut bis sehr gut geht, mit denen, die von der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung abgekoppelt sind, in der Grundüberzeugung einig, dass die weiterhin bestehenden Unterschiede zwischen Ost und West weder gerecht noch gerechtfertigt sind.

Dieses Gefühl hat Ursachen. Keine Familie, die nicht Geschichten erzählen kann von den Schwierigkeiten des Umbruchs der ostdeutschen Transformation. Von Arbeitslosigkeit, Neuanfang, dem Gefühl, die eigene Lebensleistung werde nicht ausreichend gewürdigt. Dem gegenüber stehen die Indikatoren der Landesentwicklung. Thüringen ist im (nun bereits) vierten Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung ein ostdeutsches Bundesland, das auf seine Leistungen stolz sein kann und ein Impulsgeber im Osten ist. Die Zeit der wirtschaftlichen Schrumpfung ist schon lange vorbei. Die Thüringer Wirtschaft hat – ebenso wie die Wirtschaft in den ostdeutschen Ländern insgesamt – den Sprung ins 21. Jahrhundert erfolgreich gestaltet. Wenn wir also in den ostdeutschen Ländern – aber nicht nur dort – einerseits auf gesichertem Grund stehen, so merken wir doch, dass dieser Grund andererseits in Bewegung ist. Die vor uns stehenden Veränderungen werden unser Land möglicherweise stärker prägen und umfassender verändern als in den vergangenen dreißig Jahren.

Während der Pandemie wurde häufiger davon gesprochen, dass Corona die schwerwiegendsten Einschnitte in die Lebenswelt unseres Landes seit Ende des Zweiten Weltkriegs hervorgebracht habe. Dies vernachlässigt meinem Empfinden nach nicht nur die Erfahrung aller Menschen, die in den vergangenen Jahren nach Deutschland zugewandert sind. Sondern auch die Erfahrung von mehr als 16 Millionen Ostdeutschen. Für die älteren Menschen in den ostdeutschen Ländern waren die Friedliche Revolution, die Wiedervereinigung und die darauf folgende ostdeutsche Transformation prägende Ereignisse. 
Für die nach 1990 Geborenen sind die Erfahrungen ihrer Eltern und Großeltern mit diesen Einschnitten prägend. Es ist dies die Folie, auf der diejenigen wiederum Bewertungen vornehmen. Der Pandemie und der gesellschaftlichen sowie sozio-ökonomischen Entwicklung insgesamt. In diese Bewertung fließt nicht selten die Befürchtung ein, der bescheidene Wohlstand und die gewonnene Sicherheit der vergangenen Jahrzehnte seit der Wiedervereinigung könnten wieder in Frage stehen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

mit dem Motto „zusammen wachsen“ möchte ich eine Einladung aussprechen. Die Einladung, mehr noch als bisher einander zuzuhören. Aufeinander zuzugehen und voneinander zu lernen. Unsere Demokratie fortzuentwickeln.

Der Bundespräsident erinnerte vor kurzem daran, dass er seine Amtszeit mit einer Deutschlandreise zu den Orten der Demokratie begonnen hatte. Während dieser Reise durften wir ihn in unseren 16 Ländern als Gast begrüßen. In diesem Kontext sagte der Bundespräsident: „Demokratie ist kein Zustand, sondern ein ständiger Prozess. Demokratiegeschichte kann daher nicht nur den Weg zur Demokratie ausleuchten, sondern muss auch die Demokratie und deren Weiterentwicklung selbst thematisieren. Demokratiegeschichte ist auch nicht nur die Geschichte der Parlamente und Verfassungen, von Staatsmännern und -frauen. Demokratiegeschichte ist auch Geschichte von unten, von Menschen mit neuen Ideen und mit dem Mut und der Leidenschaft, für diese Ideen zu streiten.“

Dass uns dies gelingen kann, zeigt nicht zuletzt die politische Vielfalt des Bundesrates. 15 unterschiedliche Regierungskoalitionen in 16 Ländern. Acht dieser 16 Länder werden derzeit von Drei-Parteien-Koalitionen regiert. So viel Vielfalt hat es noch nie gegeben. Wir lernen, dass die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes bei ihrer Wahlentscheidung Erwartungen an uns Politikerinnen und Politiker formulieren.

Erwartungen, die weniger darauf gerichtet sind, politische Milieus zu repräsentieren als vielmehr auf die Fähigkeit, zu beweisen, gemeinsam diskursiv Probleme zu lösen. Indem wir dies tun und dieses Handeln sowohl als Fortentwicklung unserer Demokratie verstehen und es zugleich einbetten in eine demokratische Erinnerungskultur, tragen wir dazu bei, die Brücke zwischen unserer republikanischen Tradition und der Zukunft unseres Gemeinwesens zu schlagen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

vor einem Jahr formulierte Ministerpräsident Haseloff in seiner Antrittsrede zutreffend: „Untergangs- und Niedergangszenarien oder die Verklärung der Vergangenheit sind keine harmlosen Narrative. Sie verstellen den Blick auf die Gegenwart und erzeugen Zukunftsangst.“ Er plädierte dafür, die Zukunft als offen zu verstehen und daraus die Bereitschaft und den Optimismus abzuleiten für ein gelingendes Zusammenleben in Vielfalt.

Daran will ich als Präsident des Bundesrates anknüpfen. Ich bin überzeugt, dass wir in allen Regionen unseres Landes stärker werden können und müssen. Also in diesem Sinne zusammen wachsen, damit Trennendes überwunden wird und wir zusammenwachsen.

Die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse scheint mir dafür ein wesentlicher Schlüssel zu sein. Ich möchte dazu ermutigen, diesen Schlüssel stärker als bislang zu nutzen. Seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland war der in Art. 72 Abs. 2 Grundgesetz formulierte Anspruch der ursprünglich einheitlichen und seit den 1990er Jahren gleichwertigen Lebensverhältnisse praktischer Auftrag zur Solidarität über das gesamte Territorium unseres Landes. Und auch im Prozess der Wiedervereinigung Deutschlands wurde diese Solidarität praktiziert, um Kohäsion zwischen West und Ost herzustellen. 
Insbesondere Bürgerinnen und Bürger, die in strukturschwächeren Regionen leben, deren Kommunen überschuldet sind oder deren Finanzkraft geringer ist, nehmen ausgedünnte Infrastrukturen – ob im Bereich Mobilität, Soziales oder Bildung – als Zurückstufung und Verdrängung wahr.

Die ökologische und digitale Modernisierung unseres Landes muss deshalb – auch und gerade – die bislang strukturschwachen Regionen in den Blick nehmen. Ich nenne ein Beispiel: Die Verkehrsministerinnen und Verkehrsminister der Länder haben in einem Beschluss in diesem Frühjahr die Erwartung an die kommende Bundesregierung geäußert, die Investitionen für den öffentlichen Personenverkehr um 1,5 Milliarden Euro jährlich in den nächsten zehn Jahren zu erhöhen. Ohne diese Summe im Einzelnen zu bewerten: Es ist offensichtlich, dass die Gewährleistung einer Mobilitätsgarantie in Stadt und Land und die Umstellung auf klimaschonende Verkehrsmittel bei Bus und Bahn erhebliche Investitionen nach sich ziehen müssen. Aber sie sind zugleich eine Investition in das solidarische und einigende Band unseres Gemeinwesens.

Ich wünsche mir sehr, dass der – wahrscheinlich – künftige Bundeskanzler die Initiative des amtierenden Bundesfinanzministers aufgreift, die besonders hoch verschuldeten Kommunen, die vorrangig in den westdeutschen Ländern liegen, zu entlasten. Wir sollten in diesem Hohen Hause – ganz im Sinne des kooperativen Föderalismus – dazu beitragen, ein solches Vorhaben zu unterstützen und im Zweifel im Vermittlungsausschuss eine Lösung zwischen Bund und Ländern finden. Nicht zuletzt halte ich es für notwendig, dass die Vielzahl an Einzelhilfen in einer Kindergrundsicherung gebündelt wird.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

das Motto, unter das Thüringen seine Bundesratspräsidentschaft stellt, appelliert daran, das Verbindende, nicht das Trennende, in den Mittelpunkt unseres Denkens und Handelns zu stellen. Solidarität und Zusammenhalt in Stadt und Land praktisch erfahrbar zu machen und dazu beizutragen, die vor uns liegenden Herausforderungen zu meistern, um gemeinsam stärker zu werden.

In diesem Sinne freue ich mich darauf, gemeinsam mit Ihnen in den kommenden zwölf Monaten dafür in diesem Bundesrat, der Kammer der Länder, zu arbeiten.

Herzlichen Dank!

Bild- und Textquelle: Bundesrat | Presse und Kommunikation • © Bundesrat | Steffen Kugler