Foto: Benjamin und sein Sohn Joel lauschen den Gitarrenklängen von Simon Wanninger, Ehrenamtlicher im Kinderhospiz Magdeburg. Bild von Pfeiffersche Stiftungen
Ein Zuhause auf Zeit für schwerstkranke Kinder und ihre Familien
Die Liebe zum Leben muss bleiben – bis zum Schluss
Nur
manchmal während wir so schmerzhaft reifen,
dass wir
an diesem beinah sterben, dann:
Formt
sich aus allem, was wir nicht begreifen,
ein
Angesicht und sieht uns strahlend an. (Aus Rilkes „An die Frau Prinzessin“)
Trisomie 21, besser bekannt als
Down-Syndrom. Dandy-Walker-Malformation, zystische Fehlbildung an der hinteren
Schädelgrube. Hydrozephalus
internus, im Volksmund Wasserkopf. Ventrikelseptumdefekt, ein Loch in der
Herzscheidewand. Enteritis necroticans, das ist ein
Darmbrand. Epilepsie, ein Krampfleiden. Tonische Anfälle, die führen zur Versteifung
der Skelettmuskulatur…
So heißen die Monster, die Krankheiten seines Jungen, die Benjamin auflistet. Dann sagt er: „Mein Sohn heißt Joel Konstantin, der Starke. Unser
Prinzibold.“ Und der kann nicht sprechen, nicht greifen, nicht gehen, nicht sitzen,
nicht essen – er wird es auch nie können, sagen die Ärzte. Er wird vor seinen
Eltern sterben, obwohl er erst acht Monate alt ist.
Benjamin und Julia,
beide 28, sind im emotionalen Ausnahmezustand. Er erzählt ihre Geschichte. Wie
alles angefangen hat. Mit Feindiagnostik und humangenetischen Untersuchungen.
Als Ärzte der werdenden Mutter empfehlen, ihr Kind abzutreiben, weil sie mit
einer Totgeburt rechnen. „Julia ist gelernte Kinderkrankenschwester, sie
wusste... Aber sie war doch schon in der 23. Schwangerschaftswoche! Ich habe
vor ihr gekniet und sie angefleht: ,Schatz, gib unserem Kind eine Chance!‘“ Benjamin versagt nun die Stimme.
Er
vertraut auf Gott. Er habe gewusst, dass das Leben ihres Kindes einen Sinn
habe; egal, wie lang oder kurz es sei. Joel hat am 26. Juni 2017 das Licht der
Welt erblickt. Er lebt, die ersten drei Monate auf einer Intensivstation. Noch
immer ist er verkabelt am Körper: mit einem PEG-Button für die künstliche
Ernährung, einem Pulsoxymeter zur Bestimmung der
arteriellen Sauerstoffsättigung und einem mobilen EEG-Gerät zur Hirnstrommessung.
Joel
ist das zweite Kind der Familie. Bella Joleen
ist vier und liebt ihr Brüderchen. Papa zeigt Bilder auf seinem Smartphone, wie
Bella Joel ganz vorsichtig ein Küsschen auf die Wange haucht… „Bella sagt
allen, wie sie ihn behandeln müssen, nämlich ganz vorsichtig“, erzählt Papa
stolz.
„Unser Prinzibold ist ein Kämpfer. Fünf
Operationen hat er hinter sich. Fünf Mal mussten wir damit rechnen, dass er es
nicht schafft. Vor der dritten OP am Hirn bekam er eine Nottaufe“, so der Vater.
Und: „Wir wollen kein Mitleid, aber Verständnis.“ Was meint er? „Wir mussten
uns schon anhören, dass wir das wegen des Pflegegeldes machen. Unsinn, wir
haben jetzt viel mehr Ausgaben, das Geld wird knapp.“ Und dann ist da noch der
Kinderintensivpflegedienst für Joel zu Hause ausgefallen. „Finden Sie mal kompetente Pfleger! Die
aber brauchen wir, um nicht unsere Jobs zu verlieren, um den Kredit abbezahlen
zu können.“ Ein Teufelskreis.
Benjamin muss sich
sammeln. Er will stark sein, der Familie keine Schwäche zeigen, aber das kostet
Kraft. Tief durchatmen! Dann sagt er: „Unser Sohn will leben. Er hat doch ein
Recht auf Leben. Sehen Sie seinen bezaubernden Blick!“ Joel lächelt. „Wir
lieben ihn so, wie er ist. Er gibt uns so viel zurück.“
Im April steht die sechste OP an, am
Herzen. Vorher will die Familie Kraft tanken, auch Mut. Deshalb ist sie von zu Hause in der Nähe von Wittenberg am 19. Februar nach
Magdeburg ins Kinderhospiz der Pfeifferschen Stiftungen eingezogen. Hier ist
die Familie nicht die
Ausnahme, sondern so wie alle anderen: erschöpft von der Pflege, zermürbt von
den Kämpfen mit Behörden und dem ewigen Bittstellersein, getrieben von der
Sorge um die Kinder, sowohl die unheilbar kranken als auch die gesunden,
die oft viel schneller erwachsen werden müssen.
Es gibt
Lebensläufe, die bewegen sich im Teufelskreis. Mehr als 50.000 Kinder in
Deutschland leben mit Diagnosen wie Krebs, Muskelschwund, Herz- und
Stoffwechselleiden. Oft werden sie zu Hause gepflegt, jahrelang von Familien,
deren unvorstellbare Belastung kaum jemand wahrnimmt. Sie alle brauchen Hilfe –
im Leben, das völlig auf den Kopf gestellt ist und dem wieder Normalität
abgetrotzt werden muss.
Vor fünf
Jahren, im März 2013, hat Pfeiffers das Kinderhospiz eröffnet. „Es sind
die vermeintlichen Kleinigkeiten, die wir hier den Familien zur Entlastung
ihrer Situation anbieten können und die sie durchatmen lassen. Einmal eine
Nacht durchschlafen, sich an den gedeckten Tisch setzen, mit dem Partner einen
gemeinsamen Abend für einen Kinobesuch haben. Am Lebensende als Familie
zusammen sein zu können, möglichst schmerzfrei zu sein und sich nicht um
Haushalt oder die Organisation von Hilfsmitteln sorgen zu müssen“, sagt Franziska Höppner, Leiterin des Kinderhospizes.
Julia und
Bella machen Mittagsschlaf, als Simon Wanninger kommt. Ein Ehrenamtlicher, der
einmal in der Woche hier Gitarre spielt. Und zwar „was mir gefällt, nichts
Trauriges, Songs von den Beatles, Rolling Stones, also keine Kinderlieder“,
sagt der 29-Jährige. Seine kleinen Zuhörer sitzen in Rollstühlen oder liegen im
Bett. Was da ankommt, wer weiß das schon... Vielleicht passt hier ein Zitat des
französischen Schriftstellers Victor Hugo: „Die Musik drückt das
aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist.”
Simon
Wanninger kam 2009 aus Füssen im Allgäu nach Magdeburg, um an der
Otto-von-Guericke-Universität Umwelt- und Energieprozesstechnik zu studieren.
Demnächst will er seinen Master machen. Zu Pfeiffers ist er über eine
„Eingebung“ gelangt. Das ist eine lange Geschichte, hier aber nur in
Stichpunkten: Sechs Monate Auszeit nach dem Bachelor zu Hause im Allgäu. Besuche
im Pflegeheim bei der dementen Oma. Er hilft ihr beim Essen, geht für sie und
andere Bewohner einkaufen, spielt Gitarre… Die Oma ist im September 2017
gestorben.
Da ist Simon
Wanninger schon seit anderthalb Jahre wieder beim Studium in Magdeburg. Und?
Erst mal nichts weiter. Bis er nach Monaten in einem Magdeburger Techno-Club
die Idee hatte, in einem Hospiz für Kinder Musik machen zu wollen. Einfach so
wie bei Oma im Pflegeheim. Freude schenken, Freude empfangen. Beim Googeln ist
er auf Pfeiffers Kinderhospiz gestoßen, hat in den Stiftungen angerufen… Super,
hier sind Ehrenamtliche stets willkommen. Auch Simon Wanninger. Aber: Das erste
Mal im Kinderhospiz fordert ihn hart.
Jetzt ist er
wieder hier, hat sich zu Joel und seinem Papa ins Wohnzimmer gesetzt, spielt
auf der Gitarre. Der Kleine reagiert, Papa strahlt, der Student ebenso. Musik
verbindet. Simon Wanninger ist nun „im Fluss“, wie er später sagt. Was nimmt er
von hier mit? „Dankbarkeit, dass ich so einfache Dinge machen kann wie essen,
laufen, reden. Und Geduld. Auch spirituelle Gelassenheit.“ Simon Wanninger ist
nicht der Typ für große Worte, nennt Mitmenschlichkeit als Wert.
Jeder Mensch
ist ein Mensch, jeder Mensch fühlt, denkt, spürt, hat Wünsche. Jeder Mensch hat
Liebe und braucht Liebe. Von Anfang an bis zum Schluss. Das sagt Simon
Wanninger so nicht. Auch nicht Benjamin. Trotzdem spürt man es hier. Dass Liebe so stark sein
kann. Dass man sich für sie einsetzen soll. Aber auch wieder loslassen können,
wenn die Zeit gekommen ist.