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Sachsen-Anhalt-News: Corona-Pandemie öffnete insbesondere Extremisten Tür und Tor • Verfassungsschutzbericht

Mittwoch, 15. Juni 2022
 
Sachsen-Anhalt. Die Corona-Pandemie war auch für Extremisten im vergangenen Jahr ein Ansatzpunkt, um ihre Ideologie zu verbreiten. Insbesondere Rechtsextremisten und sogenannte Reichsbürger versuchten, den legitimen Protest gegen die Corona-Eindämmungsmaßnahmen für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Das ist ihnen jedoch nur in Einzelfällen gelungen. Das Protestgeschehen gegen die Corona-Eindämmungsmaßnahmen war und ist heterogen und regional differenziert zu betrachten.
 
Teile der Protestbewegung radikalisieren sich zunehmend, sind aber weder der rechtsextremistischen noch der „Reichsbürger“-Szene zuzurechnen. Für diese Gruppe, die versucht, den Staat und seine Repräsentanten zu delegitimieren und verächtlich zu machen, hat der Verfassungsschutzverbund im März 2021 den Phänomenbereich „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ eingerichtet.
 
Diese und weitere Entwicklungen sind im Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2021 nachzulesen, der am Dienstag von Innenministerin Dr. Tamara Zieschang (Foto) und dem Leiter der Verfassungsschutzabteilung, Jochen Hollmann, vorgestellt wurde.
 
Der Verfassungsschutz rechnet sowohl der rechtsextremistischen, der linksextremistischen als auch der „Reichsbürger“-Szene etwas mehr Anhänger als im Vorjahr zu. Besonders deutlich ist der Zuwachs bei der „Reichsbürger“- und Selbstverwalterszene. Am Ende des Berichtsjahres gehörten der Szene 600 Menschen an und damit 100 mehr als im Vorjahr. Im Zuge des pandemiebedingten Protestgeschehens ist die „Reichsbürger“-Szene vermehrt durch einzelne Versammlungen in Erscheinung getreten. Diese Entwicklung ist kein Spezifikum Sachsen-Anhalts, sondern bundesweit zu beobachten.
 
Insgesamt gibt es nach Einschätzung des Verfassungsschutzes 3.100 Extremisten in Sachsen-Anhalt. Das mit Abstand größte Personenpotenzial stellt mit etwa 1.250 Anhängern (2020: 1.230) nach wie vor die rechtsextremistische Szene. Der linksextremistischen Szene werden 600 Angehörige zugerechnet (2020: 590), der islamistischen Szene unverändert 400 Anhänger und beim Ausländerextremismus unverändert 250.
 
Schon vor Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine zeichnete sich ab, dass auch das Land Sachsen-Anhalt in zunehmendem Maße mit hybriden Bedrohungen konfrontiert ist. Diese gehen vor allem von Cyberangriffen und (direkt oder indirekt von fremden Staaten gesteuerten) Desinformationskampagnen aus. Letztere waren im Jahr 2021 primär auf russische Staatsmedien zurückzuführen.
 
Innenministerin Dr. Tamara Zieschang: „Die größte Bedrohung für unsere freiheitliche demokratische Grundordnung geht nach wie vor vom Rechtsextremismus aus. Das zeigt sich sowohl in quantitativer Hinsicht als auch in qualitativer Hinsicht. Zuletzt formierten sich mehrere neue rechtsextremistische Gruppierungen bis hin zu einer Parteineugründung. Der wirksamste Schutz gegen solche Bestrebungen sind gut informierte Bürgerinnen und Bürger. Der vorliegende Verfassungsschutzbericht leistet einen wichtigen Beitrag zur Sensibilisierung der Gesellschaft für die Gefahren, die vom politischen Extremismus ausgehen.“
 
Der Leiter der Verfassungsschutzabteilung, Jochen Hollmann, ergänzt: „Auch wenn der Rechtsextremismus den Schwerpunkt unserer Arbeit zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ausmacht, kümmern wir uns auch um die anderen Formen von Extremismus. Wir sind und bleiben wachsam – im realen Alltag wie im virtuellen Raum. Das schließt die hybride Bedrohung wie Desinformationskampagnen mit ein.“
 
Rechtsextremismus

Im vergangenen Jahr haben sich in Sachsen-Anhalt mehrere neue rechtsextremistische Personenzusammenschlüsse etabliert, die dem parteiungebundenen Spektrum zuzuordnen sind. Sie beteiligten sich auch an einzelnen Versammlungen gegen Corona-Eindämmungsmaßnahmen. Beispiele sind die „Harzrevolte“, die „Neue Stärke Magdeburg“ und die „Aktionsgruppe Dessau/Bitterfeld“, deren Führungskader seit Jahren fester Bestandteil der neonazistischen Szene sind. Aus der „Neuen Stärke“ ist mittlerweile eine weitere rechtsextremistische Kleinstpartei, die „Neue Stärke Partei“ (NSP), hervorgegangen, die im November 2021 ihren Gründungsparteitag in Magdeburg veranstaltet hat. Da sie jedoch im Berichtszeitraum noch nicht durch parteispezifische Aktivitäten in Erscheinung getreten ist, wird sie von der Verfassungsschutzbehörde noch als neonazistisch geprägte Gruppierung bewertet. In Magdeburg konnte die Regionalgruppe der „Neuen Stärke“ bereits eine feste Räumlichkeit anmieten.
 
Die neonazistische Partei „Der III. Weg“ konnte ihre Strukturen in Sachsen-Anhalt weiter ausbauen. Obwohl sie nur eine geringe Mitgliederzahl von 25 Personen aufweist, ist sie derzeit die aktivste Organisation im parteigebundenen Spektrum. Ihre Funktionäre haben sich 2021 an zahlreichen Kundgebungen gegen die pandemiebedingten Maßnahmen beteiligt und im Internet zur Beteiligung am Protestgeschehen aufgerufen. Demgegenüber hat die NPD, die nach wie vor mitgliederstärkste Partei in der rechtsextremistischen Szene Sachsen-Anhalts, 2021 weiter an Bedeutung verloren. Die Aktivitäten des NPD-Landesverbandes beschränkten sich hauptsächlich auf die Präsenz in den sozialen Medien.
 
Im Land Sachsen-Anhalt ist mit dem in Schnellroda im Saalekreis ansässigen „Institut für Staatspolitik“ (IfS) auch weiterhin einer der wichtigsten Akteure der sogenannten „Neuen Rechten“ tätig. Bei der „Neuen Rechten“ handelt es sich um ein informelles Netzwerk, das jenseits des politisch isolierten neonazistischen Rechtsextremismus versucht, rassistische und antidemokratische Positionen in die Mitte der Gesellschaft zu tragen. Das IfS bedient sich hierfür vor allem publizistischer Mittel; mit seinen Publikationen bietet es auch anderen rechtsextremistischen Bestrebungen (z.B. der Identitären Bewegung) eine Plattform.
 
„Reichsbürger“ und Selbstverwalter

Die im Vorjahr getroffene Einschätzung der Verfassungsschutzbehörde, dass die Zahl der Personen, die sich der „Reichsbürger“-Szene zugehörig fühlen oder zumindest deren Argumentationsmuster nutzen, ansteigen wird, hat sich bestätigt. Auch die Vernetzung der Szene und ihre Mobilisierungsfähigkeit hat im Berichtszeitraum zugenommen. Waren die Bemühungen der „Reichsbürger“- und Selbstverwalterszene um eine Verbreitung ihrer verfassungsfeindlichen Ideologie vor der Pandemie, von wenigen Ausnahmen abgesehen, vor allem auf die virtuelle Welt und auf die Korrespondenz mit Behörden beschränkt, so ist es ihren Anhängern im Kontext des pandemiebedingten Protestgeschehens gelungen, verstärkt zu Kundgebungen in der realen Welt zu mobilisieren. So führte die „Initiative B 81“ regelmäßig Versammlungen am Straßenrand der B 81 in Gröningen, OT Heynburg, im Landkreis Börde durch; zudem organisierte sie mehrfach Versammlungen in Magdeburg.
 
Der größte und aktivste Personenzusammenschluss in Sachsen-Anhalt ist das „Königreich Deutschland“ (KRD) mit Sitz in der Lutherstadt Wittenberg. Dem Gründer des KRD, Peter Fitzek, ist es mittels Öffentlichkeitsarbeit, umfangreicher Vernetzungsbestrebungen und der Erschließung neuer Geldquellen gelungen, seine im Jahr 2012 konstituierte sektenartige Gemeinschaft neu aufzubauen und neue Anhänger zu werben. Im Zentrum seiner aktuellen Bestrebungen steht der Aufbau sogenannter „Dorfprojekte“ – autarker Gemeinden, in denen die Angehörigen des KRD leben und arbeiten sollen – und die Errichtung eines eigenen Bankensystems („Gemeinwohlkassen“), das die Grundlage für ein „autarkes und geschlossenes zinsfreies Geldsystem“ bilden soll.
 
Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates

Aus den Protesten gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie sind zahlreiche Bestrebungen hervorgetreten, die das politische System der Bundesrepublik Deutschland verächtlich machen, Repräsentanten des Staates bedrohen und in den sozialen Medien Falschinformationen und Verschwörungserzählungen verbreiten, um das Vertrauen in die freiheitliche demokratische Grundordnung zu erschüttern. In vielen Fällen konnten diese Bestrebungen keinem der bisherigen Phänomenbereiche des politischen Extremismus zugerechnet werden. Um sie zu erfassen und ihr Gefährdungspotenzial auswerten zu können, hat der Verfassungsschutzverbund daher im März 2021 den neuen Phänomenbereich „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ eingerichtet.
 
Die Akteure dieser überaus heterogenen Szene eint eine starke Affinität für Verschwörungsideologien und ein extremes Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen. Sie wähnen sich im Widerstand gegen ein autokratisches Regime, dessen Repräsentanten sie die Absicht unterstellen, die Grundrechte außer Kraft zu setzen. Angesichts der Vehemenz, mit der diese extremistischen Bestrebungen ein Abgleiten der Bundesrepublik Deutschland in eine Diktatur behaupten, mag es nicht überraschen, dass ihre in den sozialen Medien und auf Versammlungen gegen Politiker, Wissenschaftler, Polizeibeamte sowie Mitarbeiter von Justiz und Verwaltung gerichteten Beleidigungen und Drohungen im Laufe des Berichtsjahres zunehmend aggressiver vorgetragen wurden. Bei Versammlungen wurde mitunter bewusst die direkte Konfrontation mit den polizeilichen Einsatzkräften gesucht.
 
Linksextremismus

Auch im Jahr 2021 fand die linksextremistische Szene für sich keine klare Linie im Umgang mit der Pandemie und ihren Folgen. Auf die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie reagierte die Szene gespalten. Aufgrund ideologischer Differenzen konnte sie sich auf keinen gemeinsamen Aktionskonsens einigen. Während Angehörige des autonomen Spektrums vor allem in Halle (Saale) mit teils gewaltsamen Aktionen gegen Demonstrationen von Gegnern der Corona-Eindämmungsmaßnahmen vorgingen, fielen entsprechende Gegenproteste in Magdeburg wesentlich schwächer aus: Hier konzentrierten sich Teile der linksextremistischen Szene stattdessen auf die Umsetzung von Hilfsangeboten für von der Pandemie besonders nachteilig Betroffene mit dem Ziel, sich als „Kümmerer“ zu inszenieren.
 
Abseits des pandemiebedingten Protestgeschehens trat der gewaltorientierte Linksextremismus im Berichtszeitraum durch militante Aktionen in den für die Szene einschlägigen Themenfeldern Antifaschismus, Antikapitalismus und „Antirepression“ in Erscheinung. Die Szene ist weiterhin bestrebt, die Klimaschutz-Bewegung zu unterwandern und für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. So hat die autonome Szene in Halle (Saale) versucht, Demonstrationen von „Fridays for Future“ als Plattform für ihre Propagierung einer Überwindung des politischen Systems zu nutzen. Im Norden von Sachsen-Anhalt ist die im April 2021 begonnene Besetzung des Losser Forstes in der Nähe der Stadt Seehausen in der Altmark linksextremistisch beeinflusst. Innerhalb der gewaltorientierten linksextremistischen Szene traten im Berichtsjahr drei neue Personenzusammenschlüsse hervor: die „Aktivistische Jugend Halle“, die Gruppe „Magdeburg Straight Edge“ und das „Offene Antifaschistische Treffen Magdeburg und Umgebung“.
 
Der wichtigste Akteur im Bereich des nicht gewaltorientierten Linksextremismus ist nach wie vor der Verein „Rote Hilfe e.V.“. Wie schon im Vorjahr verzeichnete er einen deutlichen Mitgliederzuwachs von rund 50 auf inzwischen rund 290 Mitglieder. Die „Rote Hilfe“, die die Bundesrepublik Deutschland als ein Willkürregime betrachtet, bietet Linksextremisten organisationsübergreifend ihre Unterstützung in Ermittlungs- und Strafverfahren sowie im Strafvollzug und dient damit auch als ein wichtiger Stabilitätsanker für die gewaltorientierte linksextremistische Szene.
 
Islamismus

Die in der Vergangenheit getroffene Prognose der Verfassungsschutzbehörde, dass der Salafismus auf nach Orientierung suchende junge Menschen weiterhin eine starke Anziehungskraft ausüben wird, hat sich im Berichtszeitraum bestätigt. Die Zahl salafistischer Szeneangehöriger ist 2021 etwas gewachsen, bewegt sich aber im bundesweiten Vergleich weiterhin auf einem relativ geringen Niveau: In Sachsen-Anhalt sind dem Salafismus derzeit ca. 100 Personen zuzurechnen; 2020 waren es 90 Personen.
 
Ausländerextremismus

Wie schon in den Vorjahren ist die „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) die einzige ausländische extremistische Organisation, die in Sachsen-Anhalt über bedeutende Strukturen verfügt. Ihre Aktivitäten beschränken sich hierzulande vor allem auf die Sammlung von Spendengeldern, die Durchführung regionaler versammlungsrechtlicher Aktionen und die Teilnahme an zentralen PKK-Großveranstaltungen im übrigen Bundesgebiet.
 
Auch 2021 ließen pandemiebedingte Auflagen ein uneingeschränktes Agieren der PKK Anhängerschaft nicht zu. Insbesondere öffentlichkeitswirksame Aktivitäten der PKK nahen Vereine in Magdeburg und Halle (Saale) waren kaum zu verzeichnen. Allerdings traten das „Solidaritätsbündnis Kurdistan-Magdeburg“ und das „Rojava Solibündnis Halle“, in dem PKK-Anhänger mit Akteuren des Linksextremismus kooperieren, erneut mit Aktionen in Erscheinung.

Wirtschaftsschutz/Spionageabwehr/Cyberabwehr

Im Berichtszeitraum fokussierte sich die Verfassungsschutzbehörde erneut auf die Abwehr sogenannter hybrider Bedrohungen, die darauf abzielen, das gesellschaftliche und politische Gefüge in einem Land zu schwächen. Ein Beispiel für solche hybriden Bedrohungen ist der Einsatz von Desinformationskampagnen. Mit diesen versuchen autokratische Staaten wie Russland oder China, Politik, Gesellschaft oder bestimmte Personengruppen zu beeinflussen. Ziel dieser hybriden Maßnahmen ist es, das Vertrauen in staatliche Stellen zu untergraben, Politiker und demokratische Prozesse zu delegitimieren oder gesellschaftliche Konfliktlinien zu vertiefen.
 
Ein Beispiel hierfür aus dem Berichtsjahr waren die Versuche des russischen staatlichen Auslandssenders „RT“, die Landtagswahl in Sachsen-Anhalt als manipuliert darzustellen. Ein weiteres Mittel hybrider Bedrohungen sind Cyberangriffe. Im Frühjahr und im Sommer 2021 griff der Cyberakteur „Ghostwriter“ Abgeordnete des Deutschen Bundestages, von Landtagen und Kommunalparlamenten mit Phishing-Mails an, um deren Zugangsdaten zu Microsoft Outlook zu erhalten. Von diesem Cyberangriff waren auch Parlamentarier aus Sachsen-Anhalt betroffen. Die Spionageabwehr der Verfassungsschutzbehörde hat daher entsprechende Sensibilisierungsmaßnahmen durchgeführt.
 
Hintergrund: Der Verfassungsschutzbericht ist Teil der Extremismusprävention und Ausdruck der Arbeit und des gesetzlichen Auftrags des Verfassungsschutzes als Informationsdienstleister und Frühwarnsystem. Gemäß § 15 Abs. 2 des Gesetzes über den Verfassungsschutz im Land Sachsen-Anhalt (VerfSchG-LSA) hat das Ministerium für Inneres und Sport als Verfassungsschutzbehörde unter anderen die Öffentlichkeit periodisch über seine Aufgabenfelder und entsprechende verfassungsfeindliche Bestrebungen und Tätigkeiten nach § 4 Abs. 1 VerfSchG-LSA zu unterrichten. Der Bericht richtet sich sowohl an die Landesregierung und den Landtag als auch an die Bürgerinnen und Bürger im Land. Er gibt einen Überblick über das Potenzial der verfassungsfeindlichen Bestrebungen in Sachsen-Anhalt. Zudem sind hier Prognosen zu den Entwicklungen in den einzelnen extremistischen Phänomenbereichen zu finden.

Text: Staatskanzlei und Ministerium für Kultur des Landes Sachsen-Anhalt
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