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Gesundheit-News: Herausforderndes Verhalten: Einfühlen statt korrigieren - Professionelle Pflege Demenzkranker

17. April 2022

Foto: Eine Pflegerin geht mit einer Seniorin spazieren.
(ams). Wenn demenzkranke Menschen aggressiv und laut oder gar handgreiflich werden, bringt das nicht nur pflegende Angehörige, sondern auch beruflich Pflegende manchmal an die Grenzen. 
Doch es gibt ein Bündel von Maßnahmen, die nicht nur beruhigend auf die Demenzkranken wirken, sondern auch die Pflegefachkraft entspannen. Wichtigster Punkt ist: zu versuchen zu verstehen und sich einzufühlen.

Im Aufenthaltsraum eines Seniorenheims: Die 89-jährige Frau B. gibt Töne von sich, wobei sie die Lautstärke immer weiter steigert. Plötzlich bricht sie ab und lässt ein kehliges "Mämämämä" hören, das ebenfalls abrupt abbricht. So geht das über Stunden hinweg. Für die Umgebung ist das schwer auszuhalten.
Der 85-jährige Herr M. eilt nur im Schlafanzug bekleidet zum Aufzug, er müsse die Station unbedingt verlassen, weil er doch pünktlich zur Arbeit kommen möchte. Eine Pflegekraft stellt sich ihm entgegen, um ihn davon abzuhalten. Der Bewohner wird wütend, beschimpft die Fachkraft und versucht sie wegzuschieben.
Auffälliges Verhalten ist nicht persönlich gemeint
Zwei Beispiele für herausforderndes Verhalten - ein Symptom, das mit einer fortschreitenden Demenzerkrankung einhergeht. Auch erfahrene professionell Pflegende in den Altenpflegeeinrichtungen bringen diese Symptome der demenzkranken Bewohnerinnen und Bewohner - dazu gehören auch Schreien, Beschimpfen, Schlagen, mit Gegenständen werfen - manchmal an ihre Grenzen.
"Es ist hilfreich, sich immer wieder vor Augen zu führen, dass dieses Verhalten nicht persönlich gemeint ist, sondern Symptom einer Erkrankung", sagt Werner Winter, Experte für Betriebliche Gesundheitsförderung (BGF) im AOK-Bundesverband, und betont: "Letztlich handelt es sich um einen Versuch zu kommunizieren.
Im Überblick: die Rahmenempfehlungen
Im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit haben im Jahr 2006 Expertinnen und Experten folgende Empfehlungen für professionell Pflegende im Umgang mit Demenzkranken erarbeitet:
Empfehlung 1: Verstehende Diagnostik - Ein ernsthafter Versuch aller betreuenden Personen, die Perspektive des Betreffenden einzunehmen.
Empfehlung 2: Assessmentinstrumente - Assessmentinstrumente helfen, individuelle Beobachtungen zu objektivieren und nicht wertend zu beschreiben.
Empfehlung 3: Validieren - Es geht um Anerkennung der Gefühle des Betreffenden.
Empfehlung 4: Erinnerungspflege - Menschen mit Demenz brauchen Erinnerungshilfen, um sich ihrer Identität zu vergewissern.
Empfehlung 5: Berührung, Basale Stimulation - Eine behutsame Berührung - als bewusster, deutlicher, flächiger Hautkontakt - vermittelt Nähe und Geborgenheit.
Empfehlung 6: Bewegungsförderung -Dazu gehören zum Beispiel Spaziergänge, Treppensteigen, 30-minütige Bewegungsübungen mit Musikbegleitung.
Empfehlung 7: Pflegerisches Handeln in akuten psychiatrischen Krisen von Demenzkranken.
Professionell Pflegende sind täglich damit konfrontiert
Im Pflege-Report 2017 des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) gaben rund drei Viertel der befragten Pflegekräfte an, täglich verbal auffälliges und körperlich unruhiges Verhalten zu erleben. Rund ein Drittel ist jeden Tag mit aggressivem Verhalten konfrontiert. Mehr als jede vierte Pflegende fühlt sich von diesen Symptomen der Bewohnerinnen und Bewohner belastet. "Im Arbeitsalltag bedeuten diese Verhaltensweisen der Demenzerkrankten oft eine weitaus größere Belastung für die Pflegefachkräfte als die kognitiven Beeinträchtigungen", sagt Winter.
Gründe verstehen
Wie kommt es zu solch auffälligen Verhalten im Zuge einer Demenz? Die Rahmenempfehlungen des Bundesgesundheitsministeriums sowie die Leitlinie "Demenzen" raten zu einer sogenannten "verstehenden Diagnostik", bei der Ärzte, Ärztinnen und Pflegekräfte ernsthaft versuchen, Zugang zur Befindlichkeit und zum Erleben des Betreffenden zu erhalten.

Wenn versucht wird, so heißt es dort, die Perspektive des Betreffenden einzunehmen, "erweist sich ein Verhalten, das in der ersten Reaktion als 'störend' empfunden wurde, oft als unverstandenes Verhalten". Ängste, Überforderung, Missverständnisse oder auch unbewältigte Lebensthemen können hinter aggressivem Verhalten stecken. Eine störende Lärmkulisse, die fehlende Brille oder die Umstellung in der Alltagsroutine können für den Betreffenden unter anderem bedrohlich sein. Und natürlich führen auch die Veränderungen durch die Krankheit selbst bei den Demenzerkrankten zu Frust und nicht selten zu Verbitterung.
Tipps für den Arbeitsalltag:
Die Person nicht festhalten, nicht widersprechen, nicht korrigieren. Sondern darauf eingehen, was sie beschäftigt.
Angriffe nicht persönlich nehmen! Das ist nicht die Person, sondern die Krankheit.
Die Situation kurz verlassen, wenn das aggressive Verhalten der Bewohnerin oder des Bewohners zu anstrengend ist. Das nimmt oft die Anspannung raus.
In angespannten Situationen tief ein- und ausatmen.
Durch behutsames Berühren die Bewohnerin, den Bewohner beruhigen.
Langsam sprechen und in kurzen Sätzen.
Mit Kolleginnen und Kollegen über schwierige Situationen sprechen.
Manchmal auch organische Ursachen
Manchmal können auch organische Ursachen wie Schmerzen, Infektionen, Tumore, Harnverhalt oder eine Verstopfung sowie Nebenwirkungen von Medikamenten solche Verhaltensweisen erklären. "Allein deshalb ist es angeraten, sich intensiv mit den behandelnden Ärztinnen und Ärzten auszutauschen", empfiehlt der AOK-Experte. Dafür können Fallbesprechungen beziehungsweise Fallkonferenzen hilfreich sein, also eine Gesprächsrunde, in der das herausfordernde Verhalten einer bestimmten Person im Mittelpunkt steht, und in der Kolleginnen und Kollegen, andere beteiligten Berufsgruppen und eventuell auch die Angehörigen ihre Sichtweise einbringen können. "Gemeinsam kann man so versuchen, das Verhalten zu verstehen und Lösungen zu finden", so Winter weiter.
So hat sich bei Frau B. - die nicht mehr sprechen kann - herausgestellt, dass es sich bei den Tönen wahrscheinlich um Tonleitern handelt: Sie war von Beruf Opernsängerin. Ihre lautstarken Äußerungen können demnach als Versuch zu singen interpretiert werden. Damit sie dieser Beschäftigung nachgehen kann, werden in der Einrichtung verbindliche Zeitfenster vereinbart, während derer sie im Gemeinschaftsraum ein Stückweit ihrer früheren Profession nachgehen darf, ohne dass sie andere stört.
Medikamente sind weniger wirksam
Unruhige, ängstliche, aggressive Bewohnerinnen und Bewohner erhalten oft Medikamente, um die Situation zu entschärfen. Doch Studien legen nahe, dass andere Maßnahmen - wie Aktivitäten im Freien, Berührungs- oder Massagetherapien sowie Musik zum Beispiel - wirksamer sind als eine pharmakologische Therapie. "Wenn Medikamente eingesetzt werden, dann sollte das in der geringstmöglichen Dosis über einen wenn möglich nur kurzen Zeitraum und unter engmaschiger Kontrolle geschehen“, betont Winter.
Die Pflege-Mediathek der AOK

Die Pflege-Mediathek der AOK  ist eine digitale Lernplattform für Professionell Pflegende in Krankenhäusern, ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen zu den Themen Pflegestandards, Bewohnerprävention und Betrieblicher Gesundheitsförderung:  Sie informiert unter anderem über Formen der Demenz, Kommunikationsgrundlagen und zum Expertenstandard Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz.
Validieren statt korrigieren
Was können Pflegefachkräfte also tun, um mit diesen täglichen Herausforderungen möglichst entspannt umzugehen? Eine Empfehlung lautet: Validieren. "Bei der Validation handelt es sich mehr um eine Grundhaltung als um eine Technik. Basis des Umgangs ist Empathie, Bestätigung und Wertschätzung", erklärt Winter. "Man begibt sich in die innere Welt des Demenzkranken und nimmt Kontakt zu seinen Gefühlen auf."
Die Pflegekraft könnte Herrn M. zum Beispiel fragen, warum es ihm so wichtig ist, pünktlich zur Arbeit zu kommen. Sie könnte sein Pflichtbewusstsein loben und auf seine Angst eingehen, den Job zu verlieren. Sie könnte mit ihm über seine Arbeitserlebnisse sprechen und fragen, welchen Stellenwert die Arbeit in seinem Leben einnahm. Durch so ein identitätsstiftendes Gespräch kann es zu einem echten Kontakt mit der Bewohnerin, dem Bewohner kommen, der für Linderung des erlebten Stresses sorgt. "Keinesfalls sollte man den Erkrankten darauf hinweisen, dass seine Vorstellungswelt nicht der Realität entspricht", betont Winter. Kurze Bemerkungen wie "Da machen Sie sich also Sorgen." Oder "Das kann ich verstehen." reichen manchmal schon, um die oder den Betreffenden zu beruhigen. Die Beruhigung wirkt sich auf beide Seiten aus. BGF-Experte Winter: "Auch für die Pflegefachkräfte fühlt sich dieses Einfühlen entspannter an als zu korrigieren oder zu versuchen, das Verhalten zu unterbinden."


Text / Foto: AOK-Bundesverband