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Gesundheit-News: Frühe Nutzenbewertung: Wie gut sind neue Medikamente?

Nutzenbewertung Medikamente 17.08.19 14.10
17. August 2019

August 2019 – Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) beklagt, dass 58 Prozent der in Deutschland seit 2011 nutzenbewerteten, neuen Arzneimittel gegenüber der Standardtherapie keine oder keine nachgewiesenen Vorteile haben. Daraus abzuleiten, dass die Mehrheit der neuen Medikamente nicht besser ist als die Präparate, die bereits auf dem Markt sind, ist aber falsch. Dafür gibt es gleich mehrere Gründe.

So funktioniert das AMNOG-Verfahren.

Es klingt so einfach: Man nehme das neue Medikament X, vergleiche es mit dem bereits etablierten Medikament Y und schaue, ob es besser ist. Nach Auswertung der Studien hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) schließlich das letzte Wort: Er entscheidet z.B., ob X einen erheblichen, einen geringen, vielleicht einen nicht-quantifizierbaren oder gar keinen Zusatznutzen hat. Für den Laien klingt das nach einem unbestechlichen Verfahren, das die absolute Wahrheit ans Licht bringt. Problem ist: So funktioniert Medizin nicht. Zumindest nicht im echten Leben.

Ein Beispiel: Mitte 2018 kommt ein neues Medikament zur Behandlung einer HIV-Infektion auf den Markt. Es ist hochwirksam (das sind andere auch). Es soll auch verträglicher sein als die bestehende Therapie, was das entwickelnde Unternehmen anhand von Labordaten belegen will. Das IQWiG mag solche Daten nicht – so genannte Surrogat-Parameter – und spricht ihnen den Aussagewert ab. Das Ergebnis: Es gibt ein „Zusatznutzen nicht belegt“.

Frühe Nutzenbewertung: Wenn AMNOG auf Fachgesellschaft trifft

Die medizinische Fachgesellschaft hingegen – in diesem Fall ist es die Deutsche AIDS-Gesellschaft – empfiehlt das Präparat als Erstlinien-Therapie. Entwickelt wurde das Medikament, um auf „sanftere“ Weise sein Ziel zu erreichen, denn HIV-Patienten werden immer älter, müssen über Jahrzehnte Medikamente einnehmen. Die Anforderungen an moderne HIV-Therapien sind deshalb gestiegen: Innovativ ist nicht mehr nur, was die Viruslast senkt. Innovativ ist, was gleichzeitig die Langzeitgesundheit erhält. AMNOG-Verfahren trifft auf Fachgesellschaft – soweit können bei einer Nutzenbewertung die Meinungen auseinanderliegen. Es sind unterschiedliche Ableitungen aus ein und denselben Daten – soll heißen: Man kann die Daten so oder so interpretieren.

Nebenbei bemerkt ist es ein Problem, das allen Fachleuten bekannt ist. Auch der G-BA selbst, der das IQWiG damit beauftragt, für die Nutzenbewertung einen Bericht anzufertigen, weicht oftmals von den Berichten des IQWiG ab: „Zur mangelnden Belastbarkeit der Bewertungsergebnisse trägt auch bei, dass man bei der Bewertung des medizinisch-therapeutischen Zusatznutzens eines Wirkstoffs trotz desselben Dossiers, derselben Zweckmäßigen Vergleichstherapie (ZVT) und derselben Rechtsgrundlagen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen kann“, schreiben die Gesundheitsökonomen Prof. Dieter Cassel und Prof. Volker Ulrich in den vom Pharma-Verband BPI herausgegebenen „AMNOG-Daten 2019“. Seit 2011 ist der G-BA in 76 (36,4%) der vom IQWiG vorgenommenen 209 Verfahren von dessen Einschätzung abgewichen.

Kein Einzelfall: Konfrontation zwischen AMNOG-Organ und Fachgesellschaft

Das Beispiel aus dem Bereich HIV ist kein Einzelfall. Noch nicht verraucht ist die Aufregung um das Brustkrebsmedikament Ribociclib. Der Kinasehemmer hat laut Pharmaverband vfa in zwei Studien die Senkung des Sterberisikos für Patientinnen um 30 Prozent nachgewiesen. Die medizinische Fachgesellschaft DGHO empfiehlt ihn in der Erst- und der Zweitlinientherapie, was sich im Übrigen mit den internationalen Leitlinien deckt. Der G-BA hingegen sieht einen Zusatznutzen nicht belegt.

Das sind nur zwei Beispiele dafür, dass die Zahl des IQWiG – die 58 Prozent – eher eine statistische Größe ist und weniger eine Aussage darüber, wie innovativ neue Medikamente sind. 80 Prozent der Fälle von „Zusatznutzen nicht belegt“ gehen auf formale Gründe zurück. Die Bewertungen reflektieren also einen Methodenstreit darüber, welche Daten für eine Bewertung wichtig sind oder nicht. Eine Aussage darüber, was das Medikament gegenüber der Vergleichstherapie kann, beinhaltet es nicht.

Nur am Rande sei bemerkt, dass das IQWiG zwar im Auftrag des G-BA die Berichte anfertigt, auf deren Grundlage dann diskutiert und entschieden wird, aber letztlich der G-BA das Sagen hat. Der kommt denn auch auf andere Zahlen: Nach ihm sind nicht 58 Prozent der geprüften Substanzen ohne Vorteile, sondern 53 Prozent, wie das IQWiG in der Veröffentlichung im British Medical Journal selbst angibt. Ein Unterschied von fünf Prozentpunkten.

AMNOG-Beschluss trifft auf medizinische Leitlinie

Tatsache ist: Viele neue Medikamente, die im AMNOG-Verfahren nicht gut abschneiden, finden sich in den Therapieleitlinien der Fachgesellschaften wieder. Es sind Therapien zur Behandlung von Multipler Sklerose, Epilepsie, Typ 2-Diabetes, Krebs- oder Augenerkrankungen. Sie werden dort entweder als wertvolle therapeutische Alternative oder sogar als Therapeutikum ohne Behandlungsalternative empfohlen. „Aus Sicht der Fachgesellschaften haben viele Arzneimittel, bei denen der G-BA einen Zusatznutzen als nicht nachgewiesen einstuft, einen bedeutenden Patientennutzen und therapeutischen Stellenwert in der Versorgung“, so der vfa.

Das dürfte auch der Grund sein, warum viele Ärzte AMNOG-Beschlüsse links liegen lassen und sich lieber an den evidenzbasierten Leitlinien der medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften orientieren, die dafür entwickelt werden, sie bei der Entscheidungsfindung in bestimmten Therapiesituationen zu unterstützen. Das wiederum ist wenig überraschend: Das AMNOG wurde auch als Entscheidungshilfe für Ärzte nicht entwickelt, sondern als ein Instrument zur Preisfindung. Es fragt lediglich ob A besser als B ist.

Innovationen in der Behandlung der Multiplen Sklerose

Beispiel Nummer Drei: Im Bereich Multiple Sklerose wurden seit Einführung des AMNOG fünf neue Arzneimittel zugelassen. Dadurch können Patienten zum ersten Mal mit unterschiedlichen oralen Optionen behandelt werden, wie der vfa schreibt. Für den Verband ist das ein „starker Innovationsschub“, weil die Patienten nun nicht mehr spritzen müssen. „Zudem stehen zwei weitere Arzneimittel zur besseren symptomatischen Behandlung der MS zur Verfügung. Das sind wesentliche Fortschritte für Patienten. […] Doch bei fast allen MS-Arzneimitteln wurde der Zusatznutzen vom G-BA als nicht belegt eingestuft. Wichtige Patienten- und praxisrelevante Aspekte, wie eine verbesserte Darreichungsform bzw. Therapiezufriedenheit blieben unberücksichtigt. Das einzige Medikament mit akzeptiertem Zusatznutzen wird nur bei verhältnismäßig wenig Patienten eingesetzt, da es lediglich als Zweitlinientherapie bzw. bei schweren Krankheitsverläufen als Erstlinientherapie zugelassen wurde.“

Ohne Therapievielfalt bleibt die Qualität der Versorgung auf der Strecke

Therapievielfalt ist ein wesentliches Element einer möglichst optimalen Versorgung. Es besteht deshalb die Gefahr, dass am Ende die Patienten die Leidtragenden einer restriktiven Bewertungsstrategie durch die AMNOG-Organe sind, weil Medikamente ohne attestierten Zusatznutzen als schlechte, überflüssige oder Me-too-Medikamente abgestempelt werden und es deshalb im Versorgungsalltag schwer haben.

Dies alles besagt nicht, dass es im Bereich der Arzneimittelentwicklung nicht Raum für Verbesserungen gibt. Das zeigt allein schon die Tatsache, dass die Hälfte der eingereichten klinischen Studien abgelehnt wird und deshalb in der Bewertung des therapeutischen Wertes keine Berücksichtigung finden – ein klares Zeichen für ein bestehendes Kommunikationsproblem. Ob allerdings der vorgeschlagene Weg des IQWiG der richtige ist, dass nicht forschende Arzneimittelhersteller, sondern Entscheidungsträger im Gesundheitssystem festlegen sollen, nach welchen Prioritäten Therapien entwickelt werden sollen, darf stark angezweifelt werden. Denn Forschung und Entwicklung richtet sich nicht nur nach dem Bedarf. Entscheidend sind auch die wissenschaftlichen Möglichkeiten. Sonst wäre das Heilmittel gegen Alzheimer ja längst gefunden.

Text: Pharma Fakten e.V.