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World Cancer Day 31.01f

Gesundheit-News: Professor Dr. Christof von Kalle zum Welt-Krebs-Tag: „Wir können noch viel mehr tun.“


veröffentlicht am 31. Januar 2023

„Versorgungslücken schließen“ – das ist in diesem Jahr das Motto des Welt-Krebs-Tages, der jedes Jahr am 4. Februar begangen wird. 

Der Onkologe Professor Dr. Christof von Kalle von der Charité in Berlin und Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats von der Initiative Vision Zero fordert im Pharma Fakten-Interview, die Potenziale in der Krebsmedizin besser auszuschöpfen. Denn 40 Prozent aller Krebsfälle müssten gar nicht sein.
Professor von Kalle, wo stehen wir im Jahr 2023 mit der Krebsbekämpfung in Deutschland?

Professor Dr. Christof von Kalle: Um das zu beschreiben, reichen ein paar Zahlen: 510.000 Menschen erkranken bei uns jedes Jahr an Krebs – die Zahlen steigen. Rund 40 Prozent davon könnten wir vermeiden – durch gesunde Lebensweise, Prävention und intelligente Früherkennung. Das bedeutet: In einer perfekten Welt müssten mindestens 200.000 von diesen Menschen in diesem Jahr nicht mit einer Krebsdiagnose konfrontiert sein. Das zeigt mir: Wir können und wir müssen noch viel mehr tun.

Wen genau meinen Sie mit „wir“?

von Kalle: Streng genommen: Wir alle. Einen großen Teil des Krebsrisikos haben wir selbst in der Hand. Ungesunde Ernährung, Alkoholkonsum, Rauchen – um nur die üblichen Verdächtigen zu nennen. Aber mit „wir“ meine ich auch das Gesundheitssystem. Und ich meine die Politik. Denn gute und umfassende Prävention, intelligente Früherkennungsmechanismen, die smarte Nutzung von Gesundheitsdaten, ein effizient gestaltetes Gesundheitssystem – das alles regnet nicht vom Himmel. Es muss organisiert und es muss auch finanziert werden.

Sie haben vor Jahren die Initiative Vision Zero gegründet. Was steckt dahinter?

von Kalle: Dazu noch eine Zahl: Rund 230.000 Menschen sterben bei uns jedes Jahr an Krebs. Würde man für jedes dieser Schicksale ein Kreuz auf deutschen Autobahnen aufstellen, dann stünde alle 57 Meter eines. Das Bild soll zeigen: Krebs ist mitten in unserer Gesellschaft, aber wir versuchen das irgendwie zu verdrängen – eine völlig inakzeptable Situation. Deshalb haben wir das Konzept der Vision Zero übernommen, das unter anderem im Straßenverkehr seit vielen Jahren erfolgreich umgesetzt wird (Pharma Fakten berichtete). Übersetzt auf die Onkologie lautet unsere Vision: Jeder Krebstote ist einer zu viel. Unser Ziel ist, die Zahl der krebsbedingten Todesfälle drastisch zu senken, idealerweise gegen Null zu bringen. Um das zu erreichen, muss man im System jeden Stein umdrehen. Einerseits. Andererseits muss man „nur“ dafür sorgen, dass uns heute zur Verfügung stehende Instrumente und Maßnahmen konsequent umgesetzt werden.

Zum Beispiel?

von Kalle: Wir geben in Deutschland sehr viel für Gesundheit aus und haben eines der teuersten Systeme der Welt. Gleichzeitig sind die Ausgaben für Prävention geradezu lächerlich niedrig. Wir müssen endlich den Paradigmenwechsel schaffen: weg vom Reparaturbetrieb, der erst zur Höchstform aufläuft, wenn der Mensch bereits krank ist, hin zum ganzheitlich gedachten System, das Gesundheit fördert und fordert. Angesichts der demografischen Szenarien, die uns in naher Zukunft ins Haus stehen, bleibt uns gar nichts anderes übrig, denn eine gesund alternde Gesellschaft entscheidet auch ein Stück über unsere Zukunftsfähigkeit. Deshalb muss die Politik mehr tun, um die Bevölkerung zur Prävention zu motivieren.

Haben Sie konkrete Projekte im Kopf?

von Kalle: Eines unserer Schwerpunkte ist Lungenkrebs. Ich verstehe bis heute nicht, warum es immer noch Werbung für Tabakprodukte gibt. Neuseeland hat es uns gerade vorgemacht – bis 2025 will man rauchfrei sein. Dort gibt es jetzt ein direktes Verbot für Menschen, die 2009 oder später geboren sind, Tabakprodukte zu erwerben. Die Begründung der Behörden: Es gäbe keinen guten Grund, ein Produkt zuzulassen, das die Hälfte der Menschen, die es benutzen, tötet. Wir von Vision Zero sind für ein striktes Werbeverbot und würden uns wünschen, dass auf jede Packung ein „Präventionseuro“ erhoben wird, mit dem Maßnahmen zur Förderung der Krebsprävention finanziert werden. So schnell kann man Milliardensummen einsammeln.

Auch bei Impfraten hinkt Deutschland im internationalen Vergleich oft hinterher…

von Kalle: Auch das sehe ich mit Sorge. Die Impfung gegen die humanen Papillomviren (HPV) kann verschiedene Krebsarten vermeiden, von denen der Gebärmutterhalskrebs der bekannteste ist. 8.000 HPV-bedingte Krebsfälle im Jahr, 1.500 Frauen, die an Gebärmutterhalskrebs sterben. Und die Impfraten? Die liegen bei vollständig geimpften 15-jährigen Mädchen bei etwas über 50 Prozent, bei den Jungen sogar nur bei 26 Prozent. In Europa ist nur Frankreich schlechter; das von der Weltgesundheitsorganisation vorgegebene Ziel lautet: 90 Prozent. Länder wie Großbritannien, Schweden oder Norwegen haben Impfquoten von über 80 Prozent. Aber sie klemmen sich auch dahinter – etwa durch Impfprogramme in Schulen.

Als weiteres Handlungsfeld fordert Vision Zero „den leichteren Zugang zu Präzisionsdiagnostik und innovativen Krebstherapien.“ Was meinen Sie damit?

von Kalle: Generell sehen wir gerade in der Onkologie einen Innovationsboom, den wir Ärzt:innen so noch nicht erlebt haben. Die Behandlungsmöglichkeiten werden immer besser, aber gleichzeitig steigt auch die Komplexität. Beispiel Lungenkrebs: Fortschritte in der zielgerichteten Therapie haben die Überlebenschancen bei metastasierter Erkrankung enorm verbessert. Damit Patient:innen solche Therapien erhalten können, müssen ihre Tumoren zuvor jedoch unbedingt molekulargenetisch charakterisiert werden. 

Warum?

von Kalle: Wir müssen wissen, welche Genmutationen den konkreten Fall von Lungenkrebs treiben, weil uns für immer mehr dieser Mutationen präzise wirkende Wirkstoffe zur Verfügung stehen (Pharma Fakten berichtete). Doch diese Testung ist hierzulande nach wie vor nicht immer Standard, sodass manche Patient:innen das Risiko haben, eine weniger wirksame Therapie zu erhalten. Da hinken die Strukturen dem Fortschritt hinterher. Darunter leiden schwerkranke Menschen. Wir arbeiten bei Vision Zero daran, dass sich das ändert.

Vision Zero – also kein Krebs mehr – das ist schon sehr ehrgeizig. Welche Chancen sehen Sie, das zu verwirklichen?

von Kalle: In den 1970er Jahren hat man gesagt: Mit über 20.000 Verkehrstoten im Jahr finden wir uns nicht ab. Und so wurde ein Bündel von Maßnahmen und Optimierungen erarbeitet – vom Gurt, über das Airbag bis zur Straßenführung. Das Resultat: Rund 2.600 Verkehrstote, Tendenz fallend. Ich frage mich: Warum finden wir uns mit 230.000 Toten ab? Aber wir haben einen steilen Weg vor uns: Wir müssen unser Gesundheitssystem dringend reformieren, wir laufen etwa bei der Nutzung von digital aufbereiteten Gesundheitsdaten international hinterher. Was allein in der Datennutzung für ein Potenzial schlummert, um in Zukunft noch besser zu behandeln, ist enorm. Vision Zero ist möglich. Wir können ja schlecht sagen: Liebe Patient:innen, eigentlich würden wir Sie gerne besser behandeln, aber unsere Strukturen sind halt nicht mehr ganz auf der Höhe der Zeit.


Text / Foto: PHARMA FAKTEN