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Ho  henforschung

MAPHEUS-10 – Ausflugstag in die Schwerelosigkeit für sieben Experimente

Dienstag, 7. Dezember 2021

Eiskalte Temperaturen, nur wenige Stunden Tageslicht und ein straffer Zeitplan – trotz dieser herausfordernden Bedingungen ist die Höhenforschungsrakete MAPHEUS-10 des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) erfolgreich gestartet. Sie hob am 6. Dezember 2021 um 9:07 Uhr vom Raketenstartplatz ESRANGE (European Space and Sounding Rocket Range) in Nordschweden ab. Angetrieben wurde die Rakete von einer zweistufigen IM-IM-Konfiguration. IM steht für Improved Malemute und bezeichnet den zivil genutzten Feststoffmotor der militärischen Boden-Luft-Rakete PATRIOT PAC-2. Der Erstflug dieser Konfiguration fand im Rahmen der Kampagne MAPHEUS-11 im Mai 2021 statt.

An Bord der mehr als elf Meter langen Rakete mit einem Startgewicht von knapp 1,7 Tonnen waren sieben wissenschaftliche Experimente. In den knapp 15 Minuten zwischen Start und Landung erreichten sie eine maximale Höhe von 259 Kilometern. Die Nutzlast flog nach dem Abtrennen der Booster eine Höhenparabel. Für sechs Minuten herrschte dabei Schwerelosigkeit, um die Experimente durchzuführen. Die Nutzlast landete gebremst durch einen Fallschirm und soll sobald wie möglich per Helikopter geborgen werden.

Experimente ARTEC, MARS und RAMSES: Werkstoffforschung und Fertigungstechnologie

Was genau passiert beim Schmelzen und Erstarren von metallischen Legierungen auf kleinster Ebene? Es ist wichtig, die dabei ablaufenden Prozesse genau zu verstehen. Denn sie bestimmen maßgeblich die Eigenschaften der Legierungen. Dieses Wissen steht am Anfang vieler Fertigungsverfahren im Maschinenbau und Bauwesen sowie der Elektrotechnik und Elektronik. Für die Untersuchungen hat das DLR-Institut für Materialphysik im Weltraum das Experimentalmodul ARTEC (AeRogel TECnologie) entwickelt. Es verfügt über fünf Ofeneinschübe. Bereits in der Forschungskampagne MAPHEUS-8 waren mit ARTEC unterschiedliche Aluminium-Legierungen während des Flugs geschmolzen und erstarrt worden. Dabei handelt es sich um Proben mit einer Masse von acht bis neun Gramm. Die aktuelle MAPHEUS-Mission führte diese Experimente fort. „Unter Schwerelosigkeit werden durch die Schwerkraft ausgelöste Effekte wie Strömungen vermieden oder andere, in ihrer Auswirkung schwache, ‚dahinter versteckte‘ Effekte untersuchbar. So können wir exaktere Modelle entwickeln und die Zusammenhänge zwischen Prozessparametern, Struktur und Eigenschaften besser beschreiben“, erklärt Dr. Sonja Steinbach, Forscherin am DLR-Institut für Materialphysik im Weltraum. Die Forschungsarbeiten finden in Kooperation mit europäischen Unternehmen aus der Gießerei-Industrie sowie Instituten an Universitäten und Forschungseinrichtungen statt.

Auch das MARS-Experiment (Metallbasierte Additive Fertigung für Raumfahrt- und Schwerelosigkeitsanwendungen) reiste zum zweiten Mal in die Schwerelosigkeit. Bei seinem ersten Flug mit MAPHEUS-11 im Mai 2021 konnte erstmals ein circa drei auf vier Zentimeter großes Werkstück aus metallischem Massivglas im Weltraum gefertigt werden. Diese Werkstoffe zeichnen sich durch eine sehr hohe Festigkeit und Korrosionsbeständigkeit aus. Zum Einsatz kam dabei 3D-Druck, in der Fachwelt auch additive Fertigung genannt. Das Material wird dabei Schicht für Schicht aufgetragen bis ein dreidimensionales Bauteil entsteht. Das MARS-Experiment führt diesen Prozess vollautomatisiert in Schwerelosigkeit durch und überwacht ihn. „Additive Fertigungsverfahren haben mehrere Vorteile: Sie sind flexibel, schnell, ermöglichen sehr komplexe Formen und es fallen wenig Materialreste an. Deshalb sind sie nicht nur für Anwendungen auf der Erde, sondern auch im Weltraum sehr interessant“, beschreibt Dr. Christian Neumann, ebenfalls vom DLR-Institut für Materialphysik im Weltraum. Benötigte Strukturen könnten direkt im All gefertigt werden, zum Beispiel auf Orbitalplattformen oder auf der Oberfläche von Mond und Mars. Der Transportaufwand würde sich dadurch massiv verringern. Für die MAPHEUS-10-Kampagne haben die DLR-Forschenden die Prozesse weiter optimiert und zusätzliche Materialien erprobt.

Die aktive Fortbewegung ist eine wichtige Eigenschaft vieler Lebewesen. Sie pflanzen sich so fort, folgen einem Nahrungsangebot oder fliehen vor ungünstigen Umweltbedingungen. Mikroorganismen wie etwa Bakterien führen dazu eine Schwimmbewegung durch. Diese aktive Bewegung führt zu interessanten kollektiven Phänomenen, wenn viele Mikroorganismen zusammenkommen. Dazu gehören die Struktur- und Schwarmbildung. Neben der Grundlagenforschung ist diese aktive Schwimmbewegung auch in der Materialforschung von großem Interesse: zum Beispiel um synthetische „aktive Materialien“ herzustellen. „Denkbar wären Materialien, in denen Elemente aktive Bewegung nutzen, um etwa Materialeigenschaften gezielt zu verändern, wenn das Material wechselnden Umweltbedingungen ausgesetzt ist“, erläutert Prof. Thomas Voigtmann vom DLR-Institut für Materialphysik im Weltraum. Die im Experiment RAMSES (RAndom motion of MicroSwimmers Experiment in Space) untersuchten Modellsysteme stellen die Prinzipien dieser kollektiven aktiven Bewegung nach. Die Schwerelosigkeit bietet hier optimale Bedingungen. Denn sie hilft dabei, dass sich keine Ablagerungen am Boden des Experiments bilden.

Experimentplattform MExA: Schwerkraftwahrnehmung im All, neues Kamera- und Sensorsystem, Strahlungsmessung

Gleich vier Experimente brachte die multifunktionale Plattform MExA (Multiple Experiment Array) ins All und zurück. Sie ist 20 auf 30 Zentimeter groß. Entwickelt hat sie das DLR-Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin und das Microgravity User Support Center (MUSC) in Köln.

Wie der einfachste mehrzellige Organismus der Welt – Trichoplax adhaerens , auch Plattentier genannt – die Schwerkraft wahrnimmt, stand im Mittelpunkt eines dieser vier Experimente. Dazu filmten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des DLR gemeinsam mit der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover und der australischen LaTrobe University das Bewegungsverhalten des Organismus während des gesamten Flugs. So können sie später im Labor die Bewegungsmuster auswerten und mit Kontrollproben am Boden vergleichen. Das nur rund 0,5 Millimeter große Plattentier besitzt spezialisierte Zellen, welche die Richtung der Schwerkraft wahrnehmen können. „Die Schwerkraft ist der einzig konstante Reiz, der über Milliarden Jahre das Leben auf der Erde geformt hat. Die Orientierung im Raum ist eine grundlegende Eigenschaft vieler Organismen und sichert das Überleben. Wie sie entstanden ist und sich bis zum Menschen hin entwickelt hat, dieser Frage wollen wir mit unserem Experiment auf die Spur gehen“, sagt Dr. Jens Hauslage, Gravitationsbiologe beim DLR-Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin. Ein neuer On-board-Computer inklusive Kamera, Umweltsensoren und Steuerung des DLR-MUSC übertrug erstmals einen Livestream des Plattentier-Experiments. Im Rahmen der Flugkampagne wurden die dafür notwendigen Schnittstellen erprobt und das Bodensystem für den Empfang des Livestreams sowie weiterer Daten getestet.

Ebenfalls auf der Experimentalplattform montiert waren zwei Strahlungsmessgeräte: der M-42-Detektor und die EAD Mobile Unit. Beide hat das DLR-Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin entwickelt, letzteres im Auftrag der europäischen Raumfahrtagentur ESA. Gemeinsam sollen sie bei der NASA-Mission Artemis 1 an Bord des Raumschiffs Orion zum Einsatz kommen und die Strahlung auf dem Weg zum Mond messen. Im Rahmen von MAPHEUS-10 haben die Forschenden Funktionstests durchgeführt und die Messdaten der beiden Geräte verglichen.

Text & Foto: Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR)