Foto: Rettungswagen - Stuttgart, 6. Dezember 1971: Elf
Rettungswagen für elf Bundesländer verlassen das Werk und starten zur
"Rettungsdienst-Rallye"
Winnenden (ots). Vor genau 50 Jahren, am 6. Dezember 1971,
schenkte die Björn Steiger Stiftung jedem der damals elf Bundesländer einen
voll ausgerüsteten Rettungswagen mit medizinischer Ausstattung. Dies war die
Initialzündung für den Aufbau des modernen Rettungsdienstes in Deutschland. Was
heute selbstverständlich ist, war damals noch Neuland: Präklinische
Notfallversorgung vom Unfallort bis in die Notaufnahme statt bloßer Transport
ins nächste Krankenhaus. Doch nach fünf Jahrzehnten Rettungsdienst in
Deutschland gibt es dringenden Reformbedarf. Vor allem infolge fehlender
einheitlicher Standards droht die Notfallhilfe in Deutschland selbst immer mehr
zum Notfall zu werden.
Am Nikolaustag 1971 begann in Stuttgart die sogenannte
"Rettungsdienst-Rallye" der Björn Steiger Stiftung, eine Sternfahrt
durch ganz Deutschland. Eine Woche lang, vom 6. bis zum 12. Dezember, tourten
Siegfried und Ute Steiger durch die gesamte Bundesrepublik, um die Fahrzeuge
persönlich zu übergeben. Unterstützt wurden sie dabei von zahlreichen
prominenten Paten wie Schlagersänger Rex Gildo, Fußball-Legende Uwe Seeler oder
den TV-Moderatoren Dieter Thomas Heck und Wim Thoelke. 517.000 DM hatte die
Stiftung für die Finanzierung mithilfe von Benefizveranstaltungen,
Schallplatten für den guten Zweck sowie durch private Spenden gesammelt. Die
Bezeichnung "Rallye" war auch ein Tribut an den ehemaligen Rennfahrer
Paul Pietsch, der zu den größten Einzelspendern gehörte.
Diese ungewöhnliche Aktion nach dem Motto: "Hier habt ihr
einen Rettungswagen, nun fangt mit dem Rettungsdienst an", war tatsächlich
von Erfolg gekrönt. Noch vor Weihnachten 1971 erklärten die Landesregierungen
von Hessen, Rheinland-Pfalz, dem Saarland und Schleswig-Holstein, ihre
Rettungsdienste nach den Vorschlägen der Stiftung ausbauen zu wollen. Denn was
aus heutiger Sicht kaum vorstellbar erscheint, war damals traurige Realität:
Gleich für mehrere Bundesländer waren diese Fahrzeuge die ersten richtigen
Rettungswagen überhaupt. Vielerorts gab es damals keinen modernen
Rettungsdienst, sondern lediglich unbegleitete Krankentransporte ohne
medizinische Notfallversorgung.
Geschenkt, aber nicht umsonst
Bis Anfang der 1970er Jahre war das Rettungswesen in Deutschland
nicht flächendeckend staatlich organisiert, sondern wurde überwiegend der
Initiative von gemeinnützigen Hilfsorganisationen vor Ort überlassen, die
wiederum auf das ehrenamtliche Engagement von Freiwilligen angewiesen waren.
Erreichbar waren diese Helfer meistens auch nur für Ortskundige, denn die
einheitlichen Notfallnummern 110 und 112 wurden erst 1973 eingeführt, nachdem
die Björn Steiger Stiftung das Land Baden-Württemberg und die Bundesrepublik
Deutschland verklagt hatte. Auch zwischen den Krankentransportwagen, so die
korrekte Bezeichnung, gab es keine Kommunikation, denn die vorhandenen
Fahrzeuge verfügten nicht über Funkgeräte. An Bord befanden sich lediglich eine
Trage, einfaches Verbandsmaterial und manchmal auch eine Sauerstoff-Flasche. Außer
in Großstädten waren die Fahrer in der Regel allein unterwegs.
Dementsprechend lange konnte es dauern, bis im Notfall Hilfe
eintraf, geschweige denn der Patient medizinisch versorgt wurde. Die
Überlebenschance von Unfallpatienten war damit in der Bundesrepublik
Deutschland bis Anfang der 1970er Jahre mehr oder weniger Glückssache. So
verstarben beispielsweise im Jahr 1964 nach Angaben des Deutschen Roten Kreuzes
28 Prozent der Opfer noch am Unfallort und weitere zehn Prozent auf dem Weg ins
Krankenhaus.
Eines dieser vielen Schicksale war der achtjährige Björn Steiger, der am 3. Mai 1969 auf dem Heimweg vom Schwimmbad von einem Auto angefahren wurde. Obwohl seine Verletzungen eigentlich nicht schwer waren, starb Björn auf auf dem Weg ins Krankenhaus am Schock, weil der sofort alarmierte Krankenwagen erst nach 56 Minuten eintraf. Es war diese persönliche Tragödie der Familie Steiger, die im Juli 1969 zur Gründung der Stiftung führte, die sich von nun an dem Ziel widmete, die Notfallhilfe in Deutschland grundlegend zu verbessern. Keine anderen Eltern sollten das durchmachen müssen, was die Steigers selbst erlebt hatten, nur weil Hilfe nicht rechtzeitig eintraf.
Was ist uns unser modernes Rettungswesen heute wert?
Viele der Neuerungen, welche die Björn Steiger Stiftung in über
50 Jahren im modernen deutschen Rettungswesen angestoßen hat, ist heute für
alle Bürger selbstverständlich: Rettungs- und Notarztwagen mit modernster
Medizintechnik und geschultem Personal, die einheitlichen Notrufnummern 110 und
112, Luftrettung und Organtransporte, Notruftelefone oder das
Baby-Notarztwagensystem "Felix". Nicht wenige davon hat die Stiftung
außerdem erfolgreich in alle Welt exportiert, in Länder wie China oder Somalia.
Doch im eigenen Land stößt die Notfallhilfe immer wieder an ihre Grenzen. Auch
was selbstverständlich erscheint, darf nicht sich selbst überlassen werden.
Denn in 50 Jahren sind nicht ein einheitliches, sondern mindestens 16
verschiedene Rettungswesen in Deutschland entstanden. Doch Notfälle machen bekanntlich
nicht an Landesgrenzen halt.
Wieviel der deutschen Politik dieses mühsam aufgebaute moderne
Rettungswesen bis heute wert ist, lässt sich vielleicht am eindringlichsten
durch diese einfache Tatsache verdeutlichen: Die Bürger erwarten im Unglücksfall
selbstverständlich eine medizinische Notfallrettung, aber der Staat bezahlt nur
einen Krankentransport. Denn vergütet wird den Rettungsdiensten im deutschen
Gesundheitssystem tatsächlich nur der Transport ins Krankenhaus, nicht aber die
präklinische notfallmedizinische Behandlung ab Unfallort. Trotzdem müssen die
Rettungsdienste Medikamente, Instrumente und qualifiziertes Personal in ihren
Fahrzeugen für die Erstversorgung vorhalten. Endet der Rettungseinsatz vor Ort
ohne Krankentransport, bleiben die Rettungsdienste komplett auf den Kosten
sitzen. Die Folge: Überlastete Rettungskräfte und viele teure
Krankenhausaufenthalte, die medizinisch eigentlich nicht zwingend notwendig
wären.
Die Notfallversorgung in Deutschland ist selbst zum Notfall
geworden
"Auch nach fünf Jahrzehnten verfügt Deutschland noch über
keinen einheitlichen Stand in der Notfallversorgung. Denn diese ist in jedem
Bundesland und innerhalb der Bundesländer teilweise von Landkreis zu Landkreis,
von Stadt zu Stadt und letztlich sogar in jedem Rettungsdienstbereich
unterschiedlich organisiert. Die Notfallversorgung in Deutschland ist damit
längst selbst zum Notfall geworden", erklärt Pierre-Enric Steiger,
Präsident der Björn Steiger Stiftung.
"Reformbedarf besteht an vielen Stellen, und das oberste
Gebot hierfür lautet 'Bundeseinheitlichkeit'. Wenn wir eine funktionsfähige,
wirksame und effiziente Notfallversorgung in Deutschland wollen, dann werden
wir an bundeseinheitlichen Standards nicht vorbeikommen, sowohl in der
Gesetzgebung als auch bei der Finanzierung, bei der Berufsausbildung, bei den
Qualitätsstandards, bei der Vernetzung der Leitstellen oder beim Zugriff auf
Gesundheitsdaten wie die elektronische Patientenakte. Hier sollten wir uns ein
Beispiel an unseren österreichischen Nachbarn nehmen, die auf diesem Gebiet
bereits sehr viel weiter sind als wir. Die Ergebnisse geben ihnen Recht",
so Steiger.
20 Forderungen für die Reorganisation der Notfallversorgung in
Deutschland
Die größten Probleme und den dringendsten Handlungsbedarf hat die Björn Steiger Stiftung in ihrem Positionspapier "Die Zukunft der Notfallversorgung" vom November 2021 zusammengefasst. Es enthält 20 Forderungen für eine zukunftsfähige Reorganisation der Notfallversorgung in Deutschland.
Dazu gehören unter anderem:
Bundeseinheitliche gesetzliche Grundlagen;
bundeseinheitliche, standardisierte Notrufabfrage und
Leitstellentechnik;
einheitliche Datenerfassung und Zugang zu Gesundheitsdaten für
Notärzte und Rettungspersonal;
bundeseinheitliche Ausbildungs- und Fortbildungsrichtlinien;
bundesweit einheitliche Hilfsfristen und Qualitätsstandards
sowie deren Überwachung durch eine unabhängige Kontrollinstanz;
frühe und kontinuierliche Ersthelferausbildung bereits in der
Schule;
Vergütung von medizinischen Leistungen und Finanzierung der
Vorhaltekosten durch Steuermittel.
Erarbeitet wurden diese Forderungen vom diesjährigen "Forum
Rettungsdienst", das mehrfach im Jahr tagt und alle zwei Jahre den
"Rettungsdienstkongress" der Björn Steiger Stiftung ausrichtet. Darin
diskutieren Fachleute wie Notärzte, Wissenschaftler und Vertreter von
Leitstellen, Krankenkassen und Rettungsdiensten auf Einladung der Stiftung die
aktuellen Herausforderungen für die Notfallversorgung.
Björn Steiger Stiftung
Auf dem Heimweg vom Schwimmbad wurde der achtjährige Björn
Steiger von einem Auto erfasst. Es dauerte fast eine Stunde, bis der
Krankenwagen eintraf. Björn starb am 3. Mai 1969 nicht an seinen Verletzungen,
er starb am Schock. Seine Eltern Ute und Siegfried Steiger gründeten daraufhin
am 7. Juli 1969 die Björn Steiger Stiftung als gemeinnützige Organisation mit
dem Ziel die deutsche Notfallhilfe zu verbessern. Meilensteine dieses
Engagements sind z. B. die Einführung des bundesweit einheitlichen und
kostenfreien Notrufs 110/112, der Aufbau der Notruftelefonnetze an deutschen
Straßen, die Einführung des Sprechfunks im Krankenwagen und der Aufbau der
Luftrettung. Aktuelle Initiativen widmen sich insbesondere dem Kampf gegen den
Herztod, der Breitenausbildung in Wiederbelebung, der Sensibilisierung von
Kindern und Jugendlichen für den Notfall und dem Frühgeborenentransport.
Text / Foto: Björn Steiger Stiftung - news aktuell