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Gesundheit-News: Pseudologie - Wenn Lügen zur Krankheit wird

31. August 2021

(ams). Kleine Schwindeleien im Alltag sind normal, etwa um sich einer lästigen Verpflichtung zu entledigen oder um jemanden nicht zu verletzen. Doch manche Menschen lügen permanent, bauen sich ein ganzes Lügengebäude, eine andere Identität, eine Parallelwelt auf. Freundinnen und Freunde, Kolleginnen und Kollegen, selbst die eigene Familie fällt darauf herein. Was hat es mit der sogenannten Pseudologie auf sich? Was sind die Ursachen des extremen Lügens und wie kann man diesen Menschen helfen?

"Ich spreche 1.200 Sprachen", behauptete der Schriftsteller Karl May im Jahr 1897. Darunter sechs arabische, zwei kurdische, zwei chinesische, drei südamerikanische Dialekte und selbstverständlich mehrere Sprachen indigener Völker. Offensichtlich hat er ein wenig übertrieben. Überhaupt nahm Karl May es mit der Wahrheit nicht so genau und lebte seine Fantasien nicht nur in seinen Romanen, sondern auch im realen Leben aus.

Mal gab er sich als Augenarzt, mal als Seminarleiter oder Plantagenbesitzer aus. Und als Polizist bestahl er eine Familie und wanderte dafür ins Gefängnis. Karl May war eine schillernde Gestalt und nicht nur weltberühmter Schriftsteller, sondern auch Pseudologe. "Pseudologen sind Menschen, die krankhaft lügen", sagt Birgit Lesch, Diplom-Psychologin bei der AOK. "Sie lügen aus einem inneren Zwang heraus, um ihr beschädigtes Selbstwertgefühl aufzuwerten."

Legitim, kriminell oder krankhaft?

Schwindeln, flunkern, über- oder untertreiben, die Wahrheit verschleiern: Lügen sind im Alltag normal. So offenbarte eine repräsentative Befragung des Hamburger Marktforschungsinstituts Splendid Research zum Thema Ehrlichkeit aus dem Jahr 2016, dass knapp 60 Prozent der deutschen Bevölkerung immer mal wieder nicht ganz ehrlich ist - und zwar täglich. Die Gründe sind oft legitim: Etwa, um jemanden aufzumuntern oder Trost zu spenden. "Die Frisur sieht doch gut aus!" Das kann so ein Satz sein, wenn etwa die Freundin verschnitten vom Friseur kommt. Oder man möchte den anderen nicht verletzen und schiebt andere Verpflichtungen vor, wenn man keine Lust zu einem Treffen hat.

"Manche lügen auch aus Angst, nicht gemocht zu werden, oder sie finden die Wahrheit einfach unbequem und möchten sich Ärger ersparen", ergänzt Psychologin Lesch. Eine weitere repräsentative Online-Umfrage von YouGov unter Berufstätigen zeigte zudem, dass knapp die Hälfte der Befragten ab und zu flunkert, um besser dazustehen und Misserfolge zu vertuschen. Auch in den sozialen Medien, in Politik und Wirtschaft kommen Lug und Trug vor. Bestes Beispiel sind die im Internet verbreiteten Fake News.

Verstrickt im Netz der Lügen

Wo liegt die Grenze zwischen kleinen Schwindeleien im Alltag und kriminellen Betrügereien auf der einen Seite und krankhaftem Lügen auf der anderen Seite? "Eine Pseudologie steht in Zusammenhang mit einer ernsthaften Persönlichkeitsstörung", sagt AOK-Expertin Lesch. Pseudologen können nicht anders, als immer wieder die Unwahrheit zu sagen. „Sie tun das nicht berechnend, um ein konkretes Ziel, etwa mehr Geld oder Macht zu erreichen, sondern aus einer unbewussten Not heraus.“ Von einigen Betroffenen wird berichtet, dass sie als Kind vernachlässigt oder missbraucht wurden und sich deshalb mit Hilfe ihrer Fantasie in eine Scheinwelt flüchteten, in der sie sich Anerkennung, Wärme und Zuwendung erhofften.

Im Unterschied zu herkömmlichen Lügnern sind die Menschen so in ihren Lügengeschichten verstrickt, dass sie teilweise selbst daran glauben. Schon der Züricher Psychiater Anton Delbrück, der den Begriff Pseudologia phantastica (griech. pseudo = falsch, unecht, unwahr, Schein-) Ende des 19. Jahrhunderts prägte, ging davon aus, dass sich Menschen mit einer Pseudologie vor allem selbst betrügen. Vielleicht ist das ein Grund, warum die Betroffenen ihre Geschichten so glaubhaft erzählen, so geschickt immer neue Details arrangieren können, und dabei so liebenswert sind, dass ihnen die Mitmenschen erst einmal vertrauen.

Anzeichen für eine Pseudologie

- Die erzählten Geschichten beinhalten oft einen wahren Kern.

- Die Geschichten werden über einen langen Zeitraum aufrechterhalten. Es handelt sich nicht um einzelne, punktuelle Lügen, sondern um eine Parallelwelt.

- Die Lügen werden nicht für den persönlichen Gewinn erzählt, unbewusst soll aber der eigene Selbstwert aufgewertet werden.

-Die erfundene Scheinwelt ist kein Wahn, denn die Betroffenen können einen Bezug zur Wirklichkeit herstellen.

"Die Klassiker der Pseudologie"

Ein Mann täuscht seiner Partnerin über Jahre vor, ein erfolgreicher Architekt zu sein, im wahren Leben ist er aber Hartz-IV-Empfänger. Oder jemand gibt fälschlicherweise vor, durch mutiges Einschreiten ein Gewalt-Opfer gerettet zu haben. Neben den Helden- gibt es aber auch die Opfergeschichten, wie der Berliner Psychiater und Psychotherapeut Prof. Hans Stoffels berichtet, der sich auf das Krankheitsbild spezialisiert hat. Zum Beispiel der Mann, der behauptete, sein Sohn sei bei einem Unfall ums Leben gekommen, oder die Frau, die jahrelang vortäuschte, an einer Krebserkrankung zu leiden.

Das Münchhausen-Syndrom

Eine Sonderform der Pseudologia phantastica ist das Münchhausen-Syndrom: eine psychische Störung, bei der die Patienten körperliche oder psychische Symptome oder Behinderungen vortäuschen oder absichtlich herbeiführen. "Mit Hilfe ihres zwanghaften Verhaltens verschaffen sich die Patienten die Aufmerksamkeit und Fürsorge, die ihnen in der Kindheit vermutlich gefehlt haben", erklärt Psychologin Lesch. Auch hier wirken Lügengeschichten und Symptome so authentisch, dass die Patienten Ärztinnen und Ärzte über lange Zeit hinters Licht führen können. Schöpfen die Behandelnden Verdacht und konfrontieren die Patientinnen und Patienten damit, wechseln diese meist sofort den Arzt, berichten Experten.

Mit dem Zwang umgehen lernen

Menschen mit einer Pseudologie sind nicht leicht zu behandeln. Sie reagieren wütend und aggressiv, wenn man sie enttarnt. Im Unterschied zu Menschen mit Wahnvorstellungen sind sie allerdings in der Lage, die Wahrheit zu erkennen und zuzugeben. An dieser Stelle kann eine Psychotherapie ansetzen. Voraussetzung ist allerdings, dass die Betroffenen dazu bereit sind. Oft muss erst ein Leidensdruck zum Beispiel dadurch entstehen, dass eine Beziehung zerbrochen ist oder Depressionen und Süchte mit ins Spiel kommen.

"In einer Psychotherapie können die Betroffenen lernen, mit ihrem Zwang umzugehen und ihn zu kontrollieren", sagt Psychologin Lesch "Die Erfahrung, auch ohne ihr Lügengebäude geliebt und gemocht zu werden, kann den Selbstwert stabilisieren." Auch die Angehörigen sollten in die Therapie mit einbezogen werden. Im besten Fall ist es möglich, das kreative Potenzial und die sprachliche Begabung, die Menschen mit einer Pseudologie auszeichnet, umzulenken. Karl May hat es mit seinen zahlreichen Romanen geschafft. Seine erfundenen Figuren Winnetou und Old Shatterhand sind weltberühmt geworden.


Text: AOK Bundesverband / Symbolfoto - pixabay