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EPA 12

Gesundheit-News: Elektronische Patientenakte - „Wir brauchen Ehrgeiz – und ein Ziel vor Augen“

12. März 2021

Foto: Prof. Dr. Boris Augurzky ist Leiter des Kompetenzbereichs „Gesundheit“ am RWI - Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung e.V.

Berlin, März 2021 - Der Gesundheitsökonom Boris Augurzky (RWI-Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung und Stiftung Münch) im Interview über den holprigen Start der elektronischen Gesundheitsakte – und darüber, wie die ePA zu einem bedeutenden Baustein für eine zukunftsfähige digitale Gesundheitsversorgung werden könnte.

Herr Professor Augurzky, Anfang des Jahres ist die „elektronische Patientenakte“ gestartet. Wer sie nutzen möchte, wird enttäuscht sein: Viele Funktionen werden erst im Laufe des Jahres oder noch später verfügbar sein. Hätte man mit der Einführung der ePA noch warten sollen?

Nein. Irgendwann muss man schließlich anfangen. Da gibt es diejenigen, die meinen: Wir müssen so lange entwickeln, bis wir das perfekte Modell haben – und dann dauert es eben. Ich sage lieber: Auch wenn wir jetzt ganz einfach beginnen und wenn man nur die ersten Schritte macht: Lasst es uns tun! Dann fügen wir in den nächsten Jahren halt nach und nach mehr dazu. So, dass es graduell besser wird. Und wenn man dann in vielleicht fünf Jahren zurückschaut, sagen kann: „Oh, wir haben doch einen ganz schönen Sprung gemacht!“

Die elektronische Patientenakte könnte - nach ihren Worten - ein „bedeutender Baustein“ in der digital organisierten Gesundheitsversorgung der Zukunft werden. Noch scheint die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit bei der ePA aber sehr groß. Wo sollte denn die Reise ihrer Meinung nach hingehen?

Es gibt ja ganz große Erwartungen, was man mit der ePA alles machen und was die App alles können sollte. Vom Ziel her gedacht würde ich mir das Ganze so vorstellen: Zum Beispiel Blutdruck oder EKG-Daten wandern direkt in die ePA-App. Und dort sind sie dann in einem einheitlichen, bundesweiten Format immer hinterlegt – und zwar direkt von der Arztpraxis oder einem Labor – ohne dass der Patient damit einen Aufwand hat.

Das geht aber nur mit Ehrgeiz - und dem Ziel vor Augen: Wo soll´s denn eigentlich hingehen?

Im Moment ist es ja eigentlich sogar weniger als zum Beispiel bei dem Programm namens Dropbox: Wo ich meine Dokumente hochlade, sie für andere freigebe, die sie dann ansehen und auch bearbeiten können. Das ist jetzt nicht unbedingt eine Meisterleistung.

Welche Vorteile hätte denn die zentrale Bündelung und Abfragbarkeit von Gesundheitsdaten?

Doppelbehandlungen könnten vermieden werden, im Notfall wären Infos schneller verfügbar – und man könnte mehr Transparenz darüber haben, welche Maßnahmen was bringen.

Können Sie den Nutzen im konkreten Fall anschaulich machen?

Ältere Menschen nehmen eventuell fünf verschiedene Arzneimittel: Sie vergessen vielleicht auch mal, welche Pille genau das ist, die sie schlucken müssten. Und sie wissen dann, wenn sie ins Krankenhaus kommen, vielleicht nicht, welche Medikamente sie wann brauchen. Das könnte beispielsweise in der elektronischen Akte gespeichert sein. In Dänemark, in diesen neuen Super-Krankenhäusern, ist das bereits so geregelt: Da kommen Sie am Eingang an einen Terminal, wo Sie sich mit ihrer Patientenakte elektronisch anmelden. Und überall, wo Sie hinkommen, hat das medizinische Personal bereits alle ihre Daten auf dem Bildschirm. Da gibt es keine Zettelchen oder Nachfragen mehr dazu, welche Krankheiten, Unverträglichkeiten, Allergien Sie haben. Das ist ein für allemal elektronisch hinterlegt, für die ganze Vergangenheit.

Bundesdatenschützer fordert volle Datenhoheit über medizinische Daten

Professor Ulrich Kelber

4 Fragen an Prof. Ulrich Kelber

Im Interview zur elektronischen Patientenakte (ePA) erneuert der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, Professor Ulrich Kelber, seine Kritik an der aktuellen Version der elektronischen Patientenakte und stellt dabei besonders auf drei Aspekte ab, die er für europarechtswidrig hält.

Inwiefern bietet denn die fortschreitende Digitalisierung des Gesundheitswesens auch Chancen für die Prävention oder Früherkennung von Krankheiten?

Man hätte etwa die Entwicklung der eigenen Laborwerte besser im Blick: Steigen etwa meine Cholesterinwerte im Laufe von ein paar Jahren an, so könnte die Patientenakte automatisch ein Warnsignal senden: Mach dir mal Gedanken, wie wir damit umgehen sollen! Die Digitalisierung bietet insgesamt Chancen, das Ganze zu automatisieren - und auch zu internationalisieren: Wenn man als Patient etwa seine Historie der letzten zehn Jahre hinterlegt hat – und dann gibt es in einem anderen Land die Erkenntnis: „Mensch, bei dieser Kombination von Diagnosen, da haben wir etwas Neues herausgefunden!“ Dann könnte man dieses Wissen einspeisen, und es gibt eine Alarmmeldung, wenn bei einem Patienten hierzulande eine solche Konstellation auftritt. In Israel etwa gibt es bereits Gesundheitsprävention, die in diese Richtung geht.

Dass sich Deutschland da im Vergleich zu Israel oder auch nordischen Ländern so schwertut: Ist das auch eine Frage unterschiedlicher Mentalitäten?

Das ist definitiv eine Mentalitätsfrage. Wenn, wie etwa in Schweden, die Steuerdaten öffentlich sind, dann ist Transparenz bei den Gesundheitsdaten gar nicht mehr so wild. Da hat dann jeder von Geburt an seine Identifikationsnummer. Kinder finden das ohnehin normal, mit einer solchen Transparenz aufzuwachsen. Aber es ist hierzulande natürlich auch eine Frage des Willens: Nehmen Sie die Gesundheitsämter: Sie bekommen Corona-Daten auf Papier, müssen das abtippen in den Computer, und dann wird das womöglich noch gefaxt – das sind mehrere Handgriffe. Es dauert alles, außerdem passieren dabei Fehler. Hätte man die Daten standardisiert und elektronisch vorliegen, könnte man das auch für die Forschung nutzen – gerade im Fall von Corona ...

Corona gilt vielen als Brennglas für Probleme, kann aber auch als Beschleuniger für Lösungen, besonders digitaler Art, wirken.

Man könnte das generelle Infektionsrisiko in Praxen verringern, indem man die Terminvergabe beim Arzt smarter regelt. Das gilt nicht nur für Corona - denn zum Arzt kommen ja auch Leute, die auf andere Art krank und ansteckend sind. Die sitzen dann womöglich über Stunden im Wartezimmer zusammen. Würde man die Terminvergabe elektronisch über die ePA organisieren, könnte dies effizienter laufen. Und es ließe sich zum Beispiel auch der Impfpass in die ePA integrieren. So wüsste man immer, wo er ist! Ich habe einen zweiten, weil dieses gelbe Heftchen in meiner Kindheit mal vorübergehend nicht aufzufinden war (lacht). Außerdem könnte einen die elektronische Patientenakte erinnern, wenn etwa Auffrischungs-Impfungen anstehen. Bisher erinnert einen da keiner – auch nicht der Hausarzt, weil er dieses gelbe Heftchen auch nicht vorliegen hat ...


Text / Foto: Stiftung Gesundheitswissen / © Sven Lorenz/RWI