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Gesundheit-News: Legasthenie - meist zu spät erkannt

16. August 2022

Niemand kann in die Zukunft seines Kindes sehen. Es ist aber durchaus möglich, die Fähigkeiten seines Kindes, insbesondere die zu wenig ausgeprägten, ab dem Kindergartenalter im Auge zu behalten und nötigenfalls schon dann professionelle Hilfe zu suchen. „Erste Anzeichen, die auf eine Legasthenie hinweisen, sind früh zu sehen“, sagt Julia Buchmann, Ergotherapeutin im DVE (Deutscher Verband der Ergotherapeuten e.V.). In der Praxis verhält es sich jedoch so, dass Legasthenie meist erst spät erkannt wird; oft sogar nur deshalb, weil die Kinder durch ihr Verhalten auffallen.

Es sind viele Faktoren, die zur Entstehung einer Legasthenie führen, soviel ist bekannt. Auch familiäre Zusammenhänge sind deutlich: Kinder von Erwachsenen mit einer Legasthenie entwickeln mit erhöhter Wahrscheinlichkeit ebenfalls eine Legasthenie. „Legasthenie hat nichts mit fehlender Intelligenz zu tun“, räumt Julia Buchmann mit noch immer bestehenden Vorurteilen auf, „diese Kinder wissen sehr viel und können auch ganz spannend erzählen, solange es sich um ein Thema aus ihrem eigenen Interessensbereich handelt.“

Legasthenie ist ein komplexes Störungsbild

Die Ergotherapeutin beschäftigt sich intensiv mit dem Thema Legasthenie und bestärkt Eltern – gerade, wenn sie selbst von Legasthenie betroffen sind – Hinweise von den Erzieherinnen und aus den Förderberichten der Kita aufzunehmen. Denn schon in diesem Alter haben die Kinder bestimmte Schwierigkeiten. Manche können sich Farben und Objekte schlecht merken, verwechseln sie oder können sie nicht benennen.

Sich Liedtexte einzuprägen, fällt diesen Kindern ebenfalls oft schwer und es ist häufig eine verzögerte Sprachentwicklung zu beobachten. Wird an diesen Defiziten nicht gearbeitet, bekommen Kinder mit einer möglichen Legasthenie später in der Schule mit jedem Tag größere Probleme. All ihre Energie richtet sich beispielsweise beim Lesen so sehr auf das Lesen selbst, dass sie den Inhalt des Gelesenen weder er- noch zusammenfassen können.

Somit sind Schwierigkeiten auch in anderen Fächern als den Sprachen regelrecht vorprogrammiert. Nicht Lob, sondern Kritik prägt den Schulalltag dieser Kinder; ihre Klassenkameraden bekommen ebenso ein vollkommen falsches Bild von ihnen wie die Lehrer. Kein Wunder, dass dieses Dilemma sich seinen Weg meist über Verhaltensauffälligkeiten nach außen bahnt.

Verhaltensauffälligkeiten haben immer einen Grund

Schulkinder mit einer Legasthenie haben tatsächlich ein enormes Störungsbewusstsein: Sie wissen sehr gut, dass sie nicht so schnell lesen und schreiben wie die anderen Kinder, Buchstaben verwechseln, sich Texte nicht so gut merken können oder gedanklich schnell abschweifen. „Kindern, die zu mir in die Praxis kommen, fällt fast hörbar ein großer Stein vom Herzen, wenn sie feststellen: Die versteht mich“, macht die Ergotherapeutin Julia Buchmann die Gefühlslage ihrer jungen Patientinnen und Patienten klar. Tatsächlich kommen sie mit einer ärztlichen Verordnung wegen ihres Verhaltens in ihre ergotherapeutische Praxis – eine sekundäre Erscheinung ihrer eigentlichen Störung, der Legasthenie. Zunächst bauen Ergotherapeuten wie Julia Bachmann das oft schon stark angekratzte Selbstbewusstsein dieser Kinder wieder auf und vermitteln ihnen Strategien, mit ihrer Einschränkung umzugehen.

Vor allem aber erfahren die jungen Patienten in jeder Stunde Ergotherapie, dass sie etwas wert sind und welche positiven Dinge sie leisten können. Das baut auf. Darüber hinaus lernen sie, dass sie mehr üben müssen als andere Kinder. Das, was sich theoretisch anstrengend und trocken anhört, ist jedoch den ergotherapeutischen Prinzipien folgend kindgerecht gestaltet. „Die Kinder realisieren gar nicht, dass sie Konzentrationsübungen machen, wenn sie auf einem Rollbrett einen Slalom zwischen Kegeln absolvieren“, veranschaulicht Julia Buchmann die spielerische Herangehensweise.

Sie lässt die Kinder mit Rasierschaum Buchstaben auf die Fensterscheibe sprühen oder spezielle Spiele spielen, die ihre Wahrnehmung und Motorik trainieren und gleichzeitig ihre kognitiven und strategischen Fähigkeiten fördern. Das wiederum wirkt sich positiv auf die sprachliche Entwicklung aus.

Elternberatung genauso wichtig …

Eigenartigerweise – denn es ist noch immer eine weit verbreitete Meinung, diese Kinder hätten eine Lernbeeinträchtigung – machen sie sehr schnell enorme Sprünge“, bestätigt Buchmann ihre praktische Erfahrung mit der Lernfähigkeit von Kindern mit einer Legasthenie, die eine ergotherapeutische Förderung erhalten. „Sie haben auf bestimmten Gebieten unglaublich gut ausgeprägte Kompetenzen, können sich in anderen Bereichen total gut konzentrieren, sind sehr aufmerksam und haben eine beachtliche Ausdauer“.

Dass die Ergotherapeutin über das Kind und das Kind über sich selbst solche Erkenntnisse gewinnt, ist gut. Genauso wichtig und im Sinne einer nachhaltigen Therapie ist, dass auch das Umfeld davon Kenntnis erlangt. An erster Stelle die Eltern, denn die Eltern-Kind-Beziehung leidet – egal wie sehr die Eltern ihr Kind lieben und versuchen, in jeder Lage hinter ihm zu stehen. Auch die umfassende Beratung in alltagspraktischer Hinsicht gehört zum Arbeitsauftrag von Ergotherapeuten.

Sie machen den Eltern bewusst, wie wichtig beispielsweise das Vorlesen auch bei größeren Kindern noch ist, weil es die Sprachentwicklung stärkt und in Summe qualitiy time bedeutet. Nicht zuletzt verweisen Ergotherapeuten an Legasthenietrainer und – sind die Eltern in einer prekären finanziellen Situation – an das Jugendamt, das dann in der Pflicht steht, damit dieser Familie keine Kosten entstehen, für die sie nicht aufkommen kann.

wie das Einbinden der Lehrer

Lob und Anerkennung sind für jeden Menschen ein Lebenselixier. Damit gerade Kinder mit einer Legasthenie genügend von diesem Antriebsstoff bekommen, tauschen sich Ergotherapeuten von Anfang an und regelmäßig mit deren Lehrern aus. Zunächst auch über aktuelles Wissen zu dem komplexen Störungsbild Legasthenie, das noch nicht vollständig erforscht ist. Immer ist es so, dass der Dialog auf sachlicher Ebene zwischen Lehrer und Ergotherapeut dem einen ebenso nützt wie dem anderen.

Als wichtige Tippgeber bezeichnet die Ergotherapeutin ihre pädagogischen Gesprächspartner. Sie begegnet ihnen mit größtem Verständnis. Mit dem Wissen um die Gründe für das auffällige Verhalten eines Kindes ist es viel einfacher für Lehrer, gemeinsam mit der Ergotherapeutin Ideen für einen besseren Umgang mit diesem speziellen Kind innerhalb der Klassengemeinschaft zu entwickeln. Durch eine solche Kooperation lässt sich enorm viel bewegen und verbessern. Für alle Beteiligten, versteht sich.

Denn Schule kann und soll Spaß machen. Das klappt auch bei Kindern mit Legasthenie, wenn die Begleiterscheinungen ihres Störungsbildes ergotherapeutisch behandelt werden, sprich: sie befähigt werden, ihren Schulalltag besser zu bewerkstelligen.

Informationsmaterial zu den vielfältigen Themen der Ergotherapie gibt es bei den Ergotherapeuten vor Ort; Ergotherapeuten in Wohnortnähe finden Sie unter https://dve.info/service/therapeutensuche



Text / Foto: DVE - Deutscher Verband der Ergotherapeuten e.V.