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Sachsen-Anhalt-News: Magdeburg / ST: Verfassungsschutzbericht 2019 vorgestellt

Dienstag, den 14. Juli 2020

In seinem Bericht für das Jahr 2019 weist der Verfassungsschutz Sachsen-Anhalt insbesondere auf folgende Entwicklungen des vergangenen Jahres hin:

1. Im Rechtsextremismus ist eine Individualisierung zu verzeichnen. Rechtsextremisten ziehen sich in den privaten Raum und das Internet zurück.

2. Extremisten unterwandern die Gesellschaft, um Ängste und Unsicherheiten zu schüren.

3. Es zeigt sich verstärkt die Tendenz, dass Extremisten auch Themenfelder besetzen, die als solche zwar nicht extremistisch sind, aber sich auf Grund ihrer Bedeutung im gesellschaftlichen Diskurs dazu eignen, ideologisch aufgeladen, umgedeutet und für die eigenen Zwecke missbraucht zu werden.

Zusammenfassend kann man von einer zunehmenden Virtualisierung, Entgrenzung und Radikalisierung sprechen.

Innenminister Holger Stahlknecht (Foto): „Feinde unserer Verfassung üben mit ihren verlockenden Botschaften und vermeintlich einfachen Lösungen auf nach Orientierung suchende Menschen eine hohe Anziehungskraft aus. Ich appelliere an die Bürgerinnen und Bürger im Land, sich mit den Extremisten nicht gemein zu machen, ihre Botschaften nicht wiederzugeben und ihnen keine Bestätigung und Legitimation für ihre verfassungsfeindlichen Weltbilder zu geben. Die komplexen Fragen und Zusammenhänge der heutigen globalisierten Welt sind nicht einfach zu beantworten und schon gar nicht mit einem simplen Verweis auf ,die Ausländer‘, ,die da oben‘, ,die Ungläubigen‘, ,den Kapitalismus‘ oder ,den Westen‘“.

Insgesamt wird das extremistische Potenzial in Sachsen-Anhalt auf 2.930 Personen beziffert. Hiervon entfallen etwa 1.230 Personen auf den Bereich des Rechtsextremismus. Dies stellt zwar einen leichten Rückgang dar, der beruht jedoch auf einer gesunkenen Mitgliederzahl bei der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD). Der Rechtsextremismus bleibt der mit Abstand größte extremistische Phänomenbereich in Sachsen-Anhalt, insbesondere im Hinblick auf seine Gefährlichkeit. Trauriger Beleg hierfür ist der rechtsterroristische Anschlag auf die Synagoge in Halle am 9. Oktober 2019.

Im Linksextremismus verortet der Verfassungsschutz Sachsen-Anhalt 550 Personen. Ein Anstieg um 20 Personen, der sich vor allem im Bereich der gewaltbereiten Linksextremisten widerspiegelt.

Der Reichsbürgerszene werden – wie im Vorjahr – 500 Personen zugeordnet.

Das islamistische Personenpotenzial ist erneut angestiegen und beläuft sich auf etwa 400 Personen (2018: 300).

Dass Extremisten jedoch nicht nur in ihren Methoden vergleichbar handeln, sondern mitunter auch dieselben Ziele teilen, das zeigt der Antisemitismus. Antisemitismus lässt sich in allen extremistischen Phänomenbereichen finden. Um dem Antisemitismus entschieden entgegentreten zu können und um die gesellschaftliche Aufmerksamkeit für diesen Teilbereich des Extremismus zu erhöhen, hat der Verfassungsschutz im Rahmen des Verfassungsschutzberichtes erstmals ein phänomenübergreifendes Kapitel erstellt. Dieses skizziert die historische Entwicklung des Antisemitismus und stellt dar, dass er nicht nur im Rechtsextremismus zu finden ist, sondern auch im Linksextremismus und Islamismus.

Zu den Phänomenbereichen im Einzelnen:

I.  Rechtsextremismus

Der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Dr. Walter Lübcke am 2. Juni 2019 und der Anschlag von Halle am 9. Oktober 2019 zeigen, wie entschlossen gewaltbereite Rechtsextremisten in Deutschland, auch in Sachsen-Anhalt, sind. An der Person des Tatverdächtigen von Halle zeigt sich insbesondere, dass neue Ansätze für das Gewinnen und Auswerten von Informationen, vor allem zum Erkennen potenzieller Gewalttäter und Anschlagsszenarien, erforderlich sind. Der Tatverdächtige Stephan B. war bei den Sicherheitsbehörden zuvor nicht in Erscheinung getreten. In die örtliche rechtsextremistische Szene war er nicht eingebunden. Auf diese Szenarien wird sich der Verfassungsschutz personell und materiell einstellen.

Eine weitere Herausforderung innerhalb des Rechtsextremismus sind in diesem Zusammenhang die so genannten „Neuen Rechten“. Dies ist ein Netzwerk einflussreicher Ideologen ohne feste strukturelle Bindung. Sie zeigen sich diskursorientiert und geben sich intellektuell. Einigen kann eine Art „Scharnierfunktion“ zugesprochen werden: Es ist erklärtes Ziel, die eigene Ideologie in möglichst vielen politischen und gesellschaftlichen Spektren zu verbreiten. Hierbei sind sie als ideologische Meinungsführer nicht zu unterschätzen. Mit ihren Theorien und Schriften dienen sie als Stichwortgeber und geistige Brandstifter, insbesondere für Rechtsterroristen und andere rechtsextremistische Gewalttäter.

Jedoch auch in seinem bisherigen Auftreten darf der Rechtsextremismus nicht vernachlässigt werden. Spektrenübergreifende Vernetzungsbestrebungen wie sie zum Beispiel von der „Artgemeinschaft“ ausgehen, Rekrutierungsbemühungen in nichtextremistischen Subkulturen oder das demokratiefeindliche Beeinflussen des öffentlichen Diskurses seitens einzelner herausragender Protagonisten tragen weiterhin zum Verbreiten der menschenfeindlichen Ideologie der Rechtsextremisten bei.

 II.  Linksextremismus

Wesentliche Aktionsfelder im Linksextremismus, insbesondere der autonomen Szene, sind „Antifaschismus“, „Antirassismus“, „Antinationalismus“, „Antirepression“ sowie „Antikapitalismus“. Beim „Antifaschismus“ geht es den Linksextremisten dabei nicht nur um eine demokratische und damit gewaltlose Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus. Vielmehr wird dies zu einem Kampf gegen den demokratischen Staat und die bürgerliche Gesellschaft ausgedehnt. Für Linksextremisten steht „Antifaschismus“ daher auch für die Forderung nach einer Überwindung der bestehenden Gesellschafts- und Staatsordnung und ist somit auch ein Angriff auf den Staat und nicht lediglich eine Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus.

Neben situativ und teilweise spontan entstandenen Konfrontationen, zum Beispiel im Rahmen von versammlungsrechtlichen Aktionen, verüben Linksextremisten dabei auch gezielte Aktionen gegen ihnen missliebige Personen. So kam es am 19. Januar 2019 in Dessau-Roßlau zu einem versuchten Tötungsdelikt, als sechs Vermummte eine vierköpfige Gruppe angriffen, die sich auf dem Rückweg von einem rechtsextremistischen „Trauermarsch“ befand. Der offensichtlich geplante Angriff erfolgte unvermittelt und unter Einsatz eines Hammers, eines Schlagrings und eines Totschlägers, so dass davon ausgegangen werden kann, dass der Tod der Geschädigten zumindest billigend in Kauf genommen worden wäre.

III. Reichsbürgerszene

Rund 30 Prozent der Szeneangehörigen gehören Organisationen wie der „Samtgemeinde Alte Marck“, dem „Freistaat Preußen“ oder dem „Königreich Deutschland“ an. Etwa zehn Prozent der „Reichsbürger und Selbstverwalter“ können zugleich dem Rechtsextremismus zugeordnet werden.

Die Gefahr, die von dieser Szene ausgeht, zeigt sich vor allem in ihrer Ideologie. Wenn sich Bürger vom demokratischen Verfassungsstaat abwenden und kruden Verschwörungstheorien folgen, kann dies bei ihnen zu Abwehrreflexen bis hin zu vermeintlichen Notwehrlagen führen. In Verbindung mit diversen Waffenfunden bei „Reichsbürgern“ stellt sich damit eine sicherheitspolitische Herausforderung.

IV.          Islamismus

Im Bereich des Islamismus sind für die Sicherheitsbehörden insbesondere zwei Entwicklungen von Bedeutung. Das sind zum einen die Fragen, die sich aus der tatsächlichen oder möglichen Rückkehr von Personen ergeben, die sich freiwillig in das Jihadgebiet begeben und dort terroristischen Gruppen angeschlossen hatten.

Gleiches gilt für verdrängte IS-Kämpfer aus Syrien und dem Irak, die nach dem Verlust des „Kalifatsgebiets“ eventuell in Europa terroristisch aktiv werden könnten.

Ebenso bedeutsam – aber weniger offensichtlich – ist die Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, die vom sogenannten legalistischen Islamismus ausgeht. Dieser steht scheinbar im Einklang mit den Prinzipien unseres Rechtsstaates. Legalistische Islamisten arbeiten jedoch ebenfalls zielgerichtet an der Umsetzung ihres ideologischen Weltbilds, in dem eine vermeintlich von Gott gewollte Ordnung über allen von Menschen gemachten Regeln steht. Angesichts dieser Doktrin ist eine Vereinbarkeit mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht gegeben.

Relevant sind insoweit auch Predigten, die in Sachsen-Anhalt in Moscheen und Gebetsräumen gehalten wurden und werden. In einem kleineren Teil der Predigten stellte der Verfassungsschutz Elemente extremistischer Ideologie fest. So wurde in einer Predigt anhand von Beispielen aus dem Leben Mohammeds behauptet, dass die Muslime in Deutschland ihren „wahren“ Glauben nicht ausleben könnten und sie sich daher abschotten müssten. Damit stehen die Inhalte solcher Predigten einer Integration der zugewanderten Muslime entgegen und können bei Einzelnen zudem Hass und Vorurteile auf „den Westen“ und die Demokratie schüren.

V.  Ausländerextremismus

Wie auch in den Vorjahren verfügt lediglich die „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) über nennenswerte Strukturen in Sachsen-Anhalt.

Für die PKK und ihre Anhänger standen vor allem die Proteste gegen die militärischen Interventionen der türkischen Streitkräfte in den kurdischen Siedlungsgebieten im Nordirak und in Nordsyrien im Vordergrund. Entsprechende Aktivitäten gab es auch in Sachsen-Anhalt. So nahmen am 12. Oktober an Demonstrationen in Magdeburg und Halle bis zu 550 bzw. 600 Personen teil.

Von Bedeutung ist hierbei auch die Zusammenarbeit mit der linksextremistischen Szene. Vor allem die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands“ (MLPD), aber auch Autonome sind hier aktiv und suchen Nähe und Kooperation mit PKK-Vertretern.

VI.  Wirtschaftsschutz / Spionageabwehr / Cyberabwehr

Das Erkunden politischer Faktoren sowie der wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und militärischen Potenziale eines anderen Staates ist Aufgabe vieler fremder Nachrichtendienste. Einige haben zudem den Auftrag, gezielt wissenschaftliche Erkenntnisse aus den Hochschulen und Forschungseinrichtungen sowie die Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse von Wirtschaftsunternehmen auszuspionieren.

Ein Beispiel ist die iranische Kampagne gegen Universitäten und Hochschulen weltweit, die die Cyberangriffskräfte der iranischen Revolutionsgarden (Pasdaran) 2016 begonnen hatten und 2019 fortführten. Neben Daten- und damit Know-How-Abfluss sind verstärkt erpresserische Verschlüsselungen, Veröffentlichung von Unternehmensinterna oder gar die Übernahme von Firmennetzwerken zu verzeichnen.

Im Rahmen seiner Präventionsarbeit sucht der Wirtschaftsschutz Kontakt zu Hochschulen, Unternehmen und Verbänden und wirbt dafür, Risiken und Bedrohungen ernst zu nehmen, entsprechend sensibel zu reagieren und Schutzmaßnahmen zu ergreifen.

VII.  Übersicht über das Personenpotenzial



VIII. Hintergrund

Der Verfassungsschutzbericht ist Teil der Extremismusprävention und Ausdruck der Arbeit und des gesetzlichen Auftrags des Verfassungsschutzes als Informationsdienstleister und Frühwarnsystem. Gemäß § 15 Abs. 2 des Gesetzes über den Verfassungsschutz im Land Sachsen-Anhalt (VerfSchG-LSA) hat das Ministerium für Inneres und Sport als Verfassungsschutzbehörde unter anderen die Öffentlichkeit periodisch über seine Aufgabenfelder und entsprechende verfassungsfeindliche Bestrebungen und Tätigkeiten nach § 4 Abs. 1 VerfSchG-LSA zu unterrichten. Der Bericht richtet sich sowohl an die Landesregierung und den Landtag, als auch an die Bürgerinnen und Bürger im Land. Er gibt einen Überblick über das Potenzial der verfassungsfeindlichen Bestrebungen in Sachsen-Anhalt. Zudem sind hier Prognosen zu den Entwicklungen in den einzelnen extremistischen Phänomenbereichen zu finden.