Die
radiale Synthese eröffnet neue Wege für die chemische
Forschung und Produktion
Foto: Ein Allzweck-Reaktor: Am Max-Planck-Institut für
Kolloid- und Grenzflächenforschung hat ein Team um Kerry Gilmore und Peter
Seeberger einen Automaten für die radiale Synthese entwickelt. Das Herzstück
bildet der zylindrische Behälter am unteren Bildrand – in ihm finden die
Reaktionen statt.
MÄRZ
2020. Engpässe in der Versorgung mit Medikamenten könnten sich künftig leichter
vermeiden lassen. Denn mit einem Automaten für die radiale Synthese, die
Chemiker des Max-Planck-Instituts für Kolloid- und Grenzflächenforschung
entwickelt haben, lassen sich medizinische Wirkstoffe und andere chemische
Produkte künftig flexibel produzieren. Die Apparatur lässt sich schnell auf die
Synthese sehr unterschiedlicher, auch komplexer Substanzen umprogrammieren,
ohne dass jemand die Apparatur umbauen muss.
Dabei
kann sie Syntheseschritte kombinieren, für die bislang mehrere Geräte notwendig
waren. Außerdem kann das Gerät die Stoffe an entlegenen Orten ferngesteuert
herstellen. Die neue Technik erleichtert auch datenbasierte Entwicklungen in
der Chemie und könnte damit die Suche nach neuen chemischen Produkten und Reaktionsprozessen
beschleunigen.
Chemische
Produktion ist Maßarbeit. Egal ob es um medizinische Wirkstoffe geht oder andere
chemische Erzeugnisse, die Herstellungsprozesse müssen Chemiker immer
individuell gestalten. Und auch die entsprechenden Anlagen konzipieren sie
jeweils speziell für ein Produkt. Das könnte mit dem Automaten für die radiale
Synthese deutlich einfacher werden – zumindest wenn ein Stoff nicht in riesigen
Mengen gebraucht wird. „Mit der radialen Synthese schaffen wir einen
Paradigmenwechsel in der Chemie“, sagt Peter Seeberger. Ein Team aus der Abteilung
des Direktors am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung hat
den neuen Ansatz in der chemischen Synthese entwickelt.
Der
Syntheseautomat ermöglicht es zum einen, Menschen an schwer zu erreichenden
Orten oder in Gegenden ohne chemische Industrie je nach Bedarf mit
medizinischen Wirkstoffen oder anderen Substanzen zu versorgen, wenn diese dort
nicht gelagert oder einfach dorthin transportiert werden können. Das könnte bei
unverhofften Engpässen an medizinischen Wirkstoffen nützlich sein und Menschen
in Entwicklungsländern generell einen flexiblen Zugang zu Substanzen
ermöglichen, gerade wenn der Bedarf an einem Stoff nicht vorhersehbar ist.
„Dort könnte es höchstens bei der Verfügbarkeit der Grundchemikalien einen
Engpass geben“, sagt Peter Seeberger. „Mit den Ausgangsmaterialien zur Hand ist
das aber eine riesige Chance.“
Zum
anderen eröffnet der flexible Syntheseautomat völlig neue Perspektiven für die
chemische Forschung. Denn gerade medizinische Wirkstoffe sind oft kompliziert
gebaut, und kleine Unterschiede können große Effekte haben. Auf der Suche nach
der besten Substanz, synthetisieren Chemiker daher meist viele verschiedene
Moleküle mit kleinen Variationen. Bislang müssen sie ihre Apparaturen dabei oft
wechseln oder zumindest umbauen – in mühsamer und zeitraubender Handarbeit. Das
gilt auch für die Entwicklung der optimalen Reaktionswege, sobald das
wirksamste Molekül mal gefunden ist.
Chemie
nach dem Vorbild von Internetdiensten
„Die
Handarbeit können wir mit der radialen Synthese weitgehend aus der Chemie
nehmen“, sagt Peter Seeberger. Wenn es nach ihm geht, wird Chemie künftig wie
der Service von Internetdiensten betrieben: „Sie sitzen zwar im Büro vor Ihrem
Rechner, der Server, auf dem eine Anwendung läuft, steht aber irgendwo anders
auf der Welt“, sagt Peter Seeberger. Ähnlich könnten auch Chemiker ihre
Versuche künftig aus der Ferne ansteuern. „So lassen sich viel mehr Substanzen
und Reaktionen testen“, sagt Peter Seeberger. „Und so sind wir in der Lage,
auch viel mehr und viel verlässlichere Daten sammeln.“ Das wiederum könnte
Big-Data-Analysen auch in der Chemie voranbringen. „Und letztlich wäre sogar
eine künstliche Intelligenz, die durch Training mit den großen Datenmengen
chemische Kompetenz entwickelt hat, im Stande, die Suche nach
vielversprechenden neuen Substanzen für eine gewünschte Anwendung oder nach
effizienten Reaktionswegen zu übernehmen“, so Seeberger. Chemiker könnten ihre
Kreativität dann ganz Aufgaben widmen, für die sie nicht auf Erfahrungen mit
ähnlichen Experimente zurückgreifen können und die sich daher nicht
datengetrieben lösen lassen.
Den
experimentellen Spielraum schafft die radiale Synthese, weil sie zwei
prinzipiell unterschiedliche Prozesstechniken miteinander kombiniert: die
zyklische und die lineare. Eine zyklische Synthese ist die Methode der Wahl,
wenn Chemiker Biopolymere wie etwa Proteine, Kohlenhydrate oder DNA-Stränge
erzeugen wollen. Dabei schleusen sie ein Molekül in einem Kreislauf durch ein
Reaktionsgefäß, in dem immer wieder der gleiche chemische Reaktionstyp
stattfindet, sodass das Molekül allmählich zu einer Kette wächst.
Auch
verschiedene Glieder lassen sich in den einzelnen Zyklen an die Kette knüpfen.
Bei einer linearen Synthese durchläuft ein Molekül dagegen mehrere Stationen,
an denen verschiedene Reaktionen stattfinden, und zwar in unterschiedlichen
Apparaturen oder zumindest in unterschiedlichen Teilen einer Apparatur.
Industrieunternehmen
haben bereits Interesse angemeldet
Die
beiden Techniken kombinieren die Potsdamer Forschenden nun, indem sie mehrere
Reaktoren für zyklische Synthesen kreisförmig um eine Art Drehscheibe anordnen.
So können sie Zwischenprodukte ferngesteuert von einem zyklischen Reaktor zum
anderen befördern und mit linearen Prozessschritten verbinden. „Wir können sehr
unterschiedliche Reaktionen flexibel kombinieren, auch schnelle und langsame“,
sagt Peter Seeberger. Chemische Umwandlungen, die mit unterschiedlichen
Geschwindigkeiten ablaufen, lassen sich in gängigen linear arbeitenden
Chemieanlagen nicht effizient ausführen, weil das Reaktionsgemisch durch sie
mit konstantem Tempo fließt.
Die
Potsdamer Forschenden werden die Vielseitigkeit der radialen Synthese nun
weiter austesten.
Als
Patent haben sie die Technik aber bereits angemeldet, und erste
Industrieunternehmen haben auch bereits ihr Interesse angemeldet. Denn der neue
Syntheseautomat kann ihnen helfen, die Forschung an neuen Produkten und deren
Entwicklung drastisch zu beschleunigen. Das würde nicht nur Kosten sparen,
sondern könnte auch zu mehr Innovation führen.
Text
/ Foto: MAX-PLANCK-GESELLSCHAFT, © MPI für Kolloid- und Grenzflächenforschung /
Sourav Chatterjee