Gewalt hat viele Gesichter. Sie kann sich auf
körperlicher oder psychischer Ebene abspielen und Folgen wie ein Trauma nach
sich ziehen. „Es sind nicht nur Menschen aus Kriegsgebieten oder Kriegszeiten,
sondern ebenso Erwachsene und Kinder die hier in unserer Gesellschaft leben und
in ihrem Alltag Traumatisches erleben oder sehen“, sagt Traumaexpertin
Christine Spevak, DVE (Deutscher Verband der Ergotherapeuten e.V.). Die
Ergotherapeutin hat unter anderem gemeinsam mit ihrem Kollegen Andreas Pfeiffer
das ergotherapeutische Programm ‚Posttraumatische Belastungsstörungen‘ ins
Deutsche übersetzt.
Es kann wirklich jedem passieren: Ein Ereignis, das so gravierend ist, dass sich derjenige ausgeliefert, ohne Ausweg und dadurch handlungsunfähig fühlt. Das ist das Grunderleben einer traumatischen Situation. „Ein Trauma kann sehr unterschiedliche Auslöser haben“, erklärt Christine Spevak. Ein Autounfall, eine schwere Erkrankung oder ein Todesfall, aber auch wiederkehrende Situationen wie häusliche Gewalt, Missbrauch oder Mobbing können traumatisierend wirken. Manche Menschen verfügen über die nötige Resilienz und Bewältigungsstrategien, um ein Trauma aus eigenen Kräften zu überwinden. Manchen hilft etwa das Gespräch mit einem nahestehenden Menschen. Die Ergotherapeutin Spevak weiß, dass es aber viele Betroffene gibt, die nicht mit anderen über das Erlebte sprechen oder um Hilfe bitten können.
„Nehmen Sie
Kinder, die missbraucht werden. Die Lage ist aus ihrer Sicht ausweglos: Der
Täter setzt sie unter Druck, suggeriert, dass ihnen keiner glauben wird oder
sie schuld sind an dem, was ihnen widerfährt. Mobbingopfern geht es ähnlich:
Auch sie empfinden sich handlungsunfähig, selbst wenn sie erwachsen sind. Sie
schweigen aus Scham, können sich selbst und anderen noch weniger eingestehen,
dass sie sich ausgeliefert fühlen und außerstande sind, sich aus ihrem Dilemma
zu befreien“, offenbart die Spezialistin, in welchem Seelenzustand sich ihre
Patienten befinden.
Verändertes Verhalten
Das Ziel traumatisierter Menschen ist, sich den schlimmen
Erlebnissen oder Triggern, also angstauslösenden Faktoren wie Gerüchen,
Geräuschen oder Stimmen, die sie mit den traumatisierenden Situationen und
Menschen verbinden, nicht wieder aussetzen zu müssen. In der Folge ziehen sie
sich zurück, meiden bestimmte Aktivitäten, sogar solche, die ihnen wichtig
sind. Wird ein Kind in der Schule gemobbt, wird es versuchen, dem Unterricht so
oft als möglich fern zu bleiben. Oder dem Sportverein, findet die Ausgrenzung
dort statt. Abhängig vom Alter des Kindes führen Eltern ein solches Verhalten
eher auf die Pubertät oder eine andere Entwicklungsphase zurück; daran, dass
sich etwas Schlimmes, Einschneidendes ereignet haben könnte, denken die
wenigsten. Stellen Eltern jedoch fest, dass ihr Kind zusätzlich zu seinem
veränderten Verhalten seine Gefühle nicht mehr zeigt und ausspricht oder
schnell überreagiert, kann ein Trauma der Grund sein. Bei erwachsenen Personen
können die Menschen im Umfeld ähnliche Veränderungen feststellen. Oder die
Betroffenen bei sich selbst. Mobbingopfer gehen vielleicht nicht mehr
einkaufen, weil sie dort einem Geschäftskollegen begegnen könnten. Oder sie
vermeiden andere Freizeitaktivitäten, um Triggern aus dem Weg zu gehen. Solche
Verhaltensweisen sind alarmierend und es ist davon auszugehen, dass das Trauma
nicht verarbeitet ist. Zeit, professionelle Hilfe zu suchen.
Status quo analysieren
Ergotherapeuten wie Christine Spevak analysieren zunächst
den seelischen Zustand und die Auswirkungen auf die Handlungsfähigkeit ihres
Klienten durch Befragen und Beobachten. Die Ergotherapeutin hat maßgeblich an
der Übersetzung des kanadischen Programms ‚Posttraumatische Belastungsstörung –
Ergänzungsmaterial zu Handeln ermöglichen‘ mitgearbeitet. Fragen und
Arbeitsmaterialien aus diesem Programm setzt sie bei ihren Interventionen
ebenso ein wie weitere ergotherapeutische Methoden und Herangehensweisen.
Ergotherapeuten fokussieren sich auf den Alltag und darauf, ihre Klienten
wieder handlungsfähig zu machen. Nach der ersten Befunderhebung lässt Spevak
daher ihre Klienten eine leichte Tätigkeit, beispielsweise eine handwerkliche
Arbeit oder eine Alltagshandlung wie Kochen, ausführen. Etwas, was demjenigen
liegt. So sieht sie, wo derjenige ein Problem bei einer Handlung hat: Beginnt
er zügig? Oder traut er sich nicht, anzufangen? Lässt er sich bei der
Ausführung schnell irritieren und verunsichern? Wie verhält er sich, wenn etwas
nicht gleich klappt oder wenn etwas danebengeht: Bricht er die Handlung ab?
Oder versucht er generell, auch wenn ihm Fehler unterlaufen, das Beste daraus
zu machen? Ist er lösungsorientiert oder bricht für ihn die Welt zusammen, wenn
er etwas nicht schafft? Aus diesen Mustern erkennen Ergotherapeuten, wo sie
ansetzen können. Denn es geht darum, die Selbstwirksamkeit traumatisierter
Menschen zu fördern. Sie sollen sich selbst wieder als handlungsfähig erleben –
die Umkehrung dessen, was sie im Trauma ertragen mussten. So, dass sie wieder
zu sich selbst finden, ihre Ängste und dadurch das Trauma überwinden lernen.
Umfeld aktivieren
„Auch für Angehörige und Partner, die mit einem
traumatisierten Menschen zusammenleben, ist die Situation schwierig und
belastend“, verdeutlicht die Ergotherapeutin die Auswirkungen auf das Umfeld,
das Ergotherapeuten deshalb einbeziehen. Vor allem klären sie auf. Das ist
wichtig, denn wer weiß, dass sich der Andere zurückzieht, weil
Vermeidungsverhalten ein Symptom des Traumas ist, kann ganz anders mit ihm und
seinen nicht ausgesprochenen Ängsten umgehen. Nämlich verständnisvoll und
wertschätzend, aber eben zielgerichtet und mit der Sicherheit, das Richtige zu
tun, um die Heilung zu unterstützen und zu fördern. Dazu gehört, das
Vermeidungsverhalten aufzuweichen. Meist geht die Familie mit in den Rückzug.
Daher mobilisieren Ergotherapeuten alle, die Familienaktivitäten wieder aufzunehmen
und zwar so, dass das Traumaopfer teilhaben kann. Also in seinem eigenen Tempo
und an seine derzeitigen Möglichkeiten angepasst. Individuell erarbeiten
Ergotherapeuten gemeinsam mit allen und jeweils am aktuellen Stand der
Behandlung orientiert, was machbar ist und wo die Grenzen der Belastbarkeit
sind. So empfinden sich alle wieder als zusammengeschweißt und auch im Team als
handlungsfähig.
Informationsmaterial zu den vielfältigen Themen der
Ergotherapie gibt es bei den Ergotherapeuten vor Ort; Ergotherapeuten in
Wohnortnähe auf der Homepage des Verbandes im Navigationspunkt Service und
Ergotherapeutische Praxen unter: wwe.dve.info
Text / Foto: Deutscher Verband der Ergotherapeuten e. V. / pixabay