August 2019 – Das Institut für Qualität und
Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) beklagt, dass 58 Prozent der in
Deutschland seit 2011 nutzenbewerteten, neuen Arzneimittel gegenüber der
Standardtherapie keine oder keine nachgewiesenen Vorteile haben. Daraus
abzuleiten, dass die Mehrheit der neuen Medikamente nicht besser ist als die
Präparate, die bereits auf dem Markt sind, ist aber falsch. Dafür gibt es
gleich mehrere Gründe.
So funktioniert das AMNOG-Verfahren.
Es klingt so einfach: Man nehme das neue Medikament X,
vergleiche es mit dem bereits etablierten Medikament Y und schaue, ob es besser
ist. Nach Auswertung der Studien hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA)
schließlich das letzte Wort: Er entscheidet z.B., ob X einen erheblichen, einen
geringen, vielleicht einen nicht-quantifizierbaren oder gar keinen Zusatznutzen
hat. Für den Laien klingt das nach einem unbestechlichen Verfahren, das die
absolute Wahrheit ans Licht bringt. Problem ist: So funktioniert Medizin nicht.
Zumindest nicht im echten Leben.
Ein Beispiel: Mitte 2018 kommt ein neues Medikament zur
Behandlung einer HIV-Infektion auf den Markt. Es ist hochwirksam (das sind
andere auch). Es soll auch verträglicher sein als die bestehende Therapie, was
das entwickelnde Unternehmen anhand von Labordaten belegen will. Das IQWiG mag
solche Daten nicht – so genannte Surrogat-Parameter – und spricht ihnen den
Aussagewert ab. Das Ergebnis: Es gibt ein „Zusatznutzen nicht belegt“.
Frühe Nutzenbewertung: Wenn AMNOG auf Fachgesellschaft
trifft
Die medizinische Fachgesellschaft hingegen – in diesem
Fall ist es die Deutsche AIDS-Gesellschaft – empfiehlt das Präparat als
Erstlinien-Therapie. Entwickelt wurde das Medikament, um auf „sanftere“ Weise
sein Ziel zu erreichen, denn HIV-Patienten werden immer älter, müssen über
Jahrzehnte Medikamente einnehmen. Die Anforderungen an moderne HIV-Therapien
sind deshalb gestiegen: Innovativ ist nicht mehr nur, was die Viruslast senkt.
Innovativ ist, was gleichzeitig die Langzeitgesundheit erhält. AMNOG-Verfahren
trifft auf Fachgesellschaft – soweit können bei einer Nutzenbewertung die
Meinungen auseinanderliegen. Es sind unterschiedliche Ableitungen aus ein und
denselben Daten – soll heißen: Man kann die Daten so oder so interpretieren.
Nebenbei bemerkt ist es ein Problem, das allen Fachleuten
bekannt ist. Auch der G-BA selbst, der das IQWiG damit beauftragt, für die Nutzenbewertung
einen Bericht anzufertigen, weicht oftmals von den Berichten des IQWiG ab: „Zur
mangelnden Belastbarkeit der Bewertungsergebnisse trägt auch bei, dass man bei
der Bewertung des medizinisch-therapeutischen Zusatznutzens eines Wirkstoffs
trotz desselben Dossiers, derselben Zweckmäßigen Vergleichstherapie (ZVT) und
derselben Rechtsgrundlagen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen kann“,
schreiben die Gesundheitsökonomen Prof. Dieter Cassel und Prof. Volker Ulrich
in den vom Pharma-Verband BPI herausgegebenen „AMNOG-Daten 2019“. Seit 2011 ist
der G-BA in 76 (36,4%) der vom IQWiG vorgenommenen 209 Verfahren von dessen
Einschätzung abgewichen.
Kein Einzelfall: Konfrontation zwischen AMNOG-Organ und
Fachgesellschaft
Das Beispiel aus dem Bereich HIV ist kein Einzelfall.
Noch nicht verraucht ist die Aufregung um das Brustkrebsmedikament Ribociclib.
Der Kinasehemmer hat laut Pharmaverband vfa in zwei Studien die Senkung des
Sterberisikos für Patientinnen um 30 Prozent nachgewiesen. Die medizinische
Fachgesellschaft DGHO empfiehlt ihn in der Erst- und der Zweitlinientherapie,
was sich im Übrigen mit den internationalen Leitlinien deckt. Der G-BA hingegen
sieht einen Zusatznutzen nicht belegt.
Das sind nur zwei Beispiele dafür, dass die Zahl des
IQWiG – die 58 Prozent – eher eine statistische Größe ist und weniger eine
Aussage darüber, wie innovativ neue Medikamente sind. 80 Prozent der Fälle von
„Zusatznutzen nicht belegt“ gehen auf formale Gründe zurück. Die Bewertungen
reflektieren also einen Methodenstreit darüber, welche Daten für eine Bewertung
wichtig sind oder nicht. Eine Aussage darüber, was das Medikament gegenüber der
Vergleichstherapie kann, beinhaltet es nicht.
Nur am Rande sei bemerkt, dass das IQWiG zwar im Auftrag
des G-BA die Berichte anfertigt, auf deren Grundlage dann diskutiert und
entschieden wird, aber letztlich der G-BA das Sagen hat. Der kommt denn auch
auf andere Zahlen: Nach ihm sind nicht 58 Prozent der geprüften Substanzen ohne
Vorteile, sondern 53 Prozent, wie das IQWiG in der Veröffentlichung im British
Medical Journal selbst angibt. Ein Unterschied von fünf Prozentpunkten.
AMNOG-Beschluss trifft auf medizinische Leitlinie
Tatsache ist: Viele neue Medikamente, die im
AMNOG-Verfahren nicht gut abschneiden, finden sich in den Therapieleitlinien
der Fachgesellschaften wieder. Es sind Therapien zur Behandlung von Multipler
Sklerose, Epilepsie, Typ 2-Diabetes, Krebs- oder Augenerkrankungen. Sie werden
dort entweder als wertvolle therapeutische Alternative oder sogar als
Therapeutikum ohne Behandlungsalternative empfohlen. „Aus Sicht der
Fachgesellschaften haben viele Arzneimittel, bei denen der G-BA einen
Zusatznutzen als nicht nachgewiesen einstuft, einen bedeutenden Patientennutzen
und therapeutischen Stellenwert in der Versorgung“, so der vfa.
Das dürfte auch der Grund sein, warum viele Ärzte
AMNOG-Beschlüsse links liegen lassen und sich lieber an den evidenzbasierten
Leitlinien der medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften orientieren,
die dafür entwickelt werden, sie bei der Entscheidungsfindung in bestimmten
Therapiesituationen zu unterstützen. Das wiederum ist wenig überraschend: Das
AMNOG wurde auch als Entscheidungshilfe für Ärzte nicht entwickelt, sondern als
ein Instrument zur Preisfindung. Es fragt lediglich ob A besser als B ist.
Innovationen in der Behandlung der Multiplen Sklerose
Beispiel Nummer Drei: Im Bereich Multiple Sklerose wurden
seit Einführung des AMNOG fünf neue Arzneimittel zugelassen. Dadurch können
Patienten zum ersten Mal mit unterschiedlichen oralen Optionen behandelt
werden, wie der vfa schreibt. Für den Verband ist das ein „starker
Innovationsschub“, weil die Patienten nun nicht mehr spritzen müssen. „Zudem
stehen zwei weitere Arzneimittel zur besseren symptomatischen Behandlung der MS
zur Verfügung. Das sind wesentliche Fortschritte für Patienten. […] Doch bei
fast allen MS-Arzneimitteln wurde der Zusatznutzen vom G-BA als nicht belegt
eingestuft. Wichtige Patienten- und praxisrelevante Aspekte, wie eine
verbesserte Darreichungsform bzw. Therapiezufriedenheit blieben
unberücksichtigt. Das einzige Medikament mit akzeptiertem Zusatznutzen wird nur
bei verhältnismäßig wenig Patienten eingesetzt, da es lediglich als
Zweitlinientherapie bzw. bei schweren Krankheitsverläufen als
Erstlinientherapie zugelassen wurde.“
Ohne Therapievielfalt bleibt die Qualität der Versorgung
auf der Strecke
Therapievielfalt ist ein wesentliches Element einer
möglichst optimalen Versorgung. Es besteht deshalb die Gefahr, dass am Ende die
Patienten die Leidtragenden einer restriktiven Bewertungsstrategie durch die
AMNOG-Organe sind, weil Medikamente ohne attestierten Zusatznutzen als
schlechte, überflüssige oder Me-too-Medikamente abgestempelt werden und es
deshalb im Versorgungsalltag schwer haben.
Dies alles besagt nicht, dass es im Bereich der
Arzneimittelentwicklung nicht Raum für Verbesserungen gibt. Das zeigt allein
schon die Tatsache, dass die Hälfte der eingereichten klinischen Studien
abgelehnt wird und deshalb in der Bewertung des therapeutischen Wertes keine
Berücksichtigung finden – ein klares Zeichen für ein bestehendes
Kommunikationsproblem. Ob allerdings der vorgeschlagene Weg des IQWiG der
richtige ist, dass nicht forschende Arzneimittelhersteller, sondern
Entscheidungsträger im Gesundheitssystem festlegen sollen, nach welchen
Prioritäten Therapien entwickelt werden sollen, darf stark angezweifelt werden.
Denn Forschung und Entwicklung richtet sich nicht nur nach dem Bedarf.
Entscheidend sind auch die wissenschaftlichen Möglichkeiten. Sonst wäre das
Heilmittel gegen Alzheimer ja längst gefunden.
Text: Pharma Fakten e.V.