Dienstag, den 2. Juli 2019
ERSTE DEUTSCHE GROSSSIEDLUNG DER MODERNE
Von Kathrain Graubaum
Ein Haltepunkt auf der Grand Tour durch die deutsche Geschichte der
Moderne ist Magdeburg. In den 1920er Jahren bereitete hier
Oberbürgermeister Hermann Beims den Weg für das Neue Bauen.
Nach ihm benannt ist die erste deutsche Großsiedlung. Planer,
Architekten, Handwerker kamen mit Bauhaus-Ideen nach Magdeburg
und brachten reformerische Baumaterialien zum Einsatz: Licht, Luft,
Sonne, Farben und große Grünflächen. Die Wohnungsbaugesellschaft
Magdeburg macht touristische Angebote zur Besichtigung von
Siedlung und Musterwohnung sowie zum Übernachten in einer
stilvollen Gästewohnung.
Für den Wirtschaftsaufschwung in den 1920er Jahren gibt es einen
Begriff: Goldene Zwanziger. Die Magdeburger Hermann-BeimsSiedlung steht sinnbildlich dafür. Hier ist man von intensiv
leuchtenden, stimmungsaufhellenden Gelbtönen umgeben. Derzeit
bringt eine groß angelegte Sanierung hier außen wie innen die Farben
zurück, mit denen das Neue Bauen Anfang der 1920er Jahre auch in
Magdeburg Einzug hielt.
Gäste der Stadt, die an der Architektur der Magdeburger Moderne und
an deren Innenleben interessiert sind, lernen mit der Beims-Siedlung
ein Kleinod auf der „Grand Tour der Moderne“ durch Deutschland
kennen. Diese erste deutsche Großsiedlung mit 2500 Wohnungen, ab
1925 nach einheitlichem Gesamtplan erbaut, ist Europas bislang
größtes architektonisches Flächendenkmal.
Wie schön kann das Wohnen in einer Art Museum für Neues Bauen
sein: Die Treppenaufgänge in den denkmalgerecht sanierten
Mietshäusern sind licht und in den charakteristisch kräftigen Farben
gemalert. Seit einigen Jahren kann eine historische Musterwohnung
besichtigt werden. Der engagierte Bürgerverein „Beimssiedlung“, das
Stadtplanungsamt und die Wohnungsbaugesellschaft Magdeburg
hatten die Idee für ein Besucher-Programm, das sowohl Siedlungs- als
auch Stadt- und Zeitgeschichte vermittelt. Denn Magdeburgs sozialdemokratischer Oberbürgermeister Hermann Beims (1863-1931)
sympathisierte mit den Ideen der Bauhäusler, die 1925 von Weimar
nach Dessau gezogen waren. Beims holte Planer, Architekten,
Handwerker, Künstler mit avantgardistischen Ideen nach Magdeburg.
Hier sollten sie ihre Visionen in die Realität umsetzen.
Nach professioneller Untersuchung der Musterwohnung am
Beimsplatz 5 weiß man heute sehr viel über deren Originalzustand.
Wer die nun restaurierten Räume betritt, darf sich vorstellen, einer der
Erstmieter zu sein. Stadtführer, ausliegende Broschüren und an den
Wänden hängende Schautafeln helfen dabei, sich in das Leben
innerhalb dieser Siedlung einzufühlen.
Die Straßen hier heißen Hötensleber Straße, Flechtinger Straße,
Calvörder Straße, Weferlinger Straße, Marienborner Straße ... –
benannt nach Dörfern aus der umliegenden Börde. Die expandierende
Industrie, allen voran der Schwermaschinenbau brauchte
Arbeitskräfte. Die mussten dem ländlichen Raum „abgeworben“
werden – unter anderem mit modern(st)en und gleichwohl
bezahlbaren Wohnungen. Die Menschen sollten nicht nach einem
langen Arbeitstag in dunklen Werkhallen abends in „graue
Steinkästen“ heimkehren. Die Gestalter der Arbeitersiedlung folgten
dem „Aufruf zum farbigen Bauen“ von Bruno Taut. Der Freund des
Bauhausdirektors Walter Gropius war bis 1924 Stadtbaurat in
Magdeburg und verlieh ihr das Image einer bunten Stadt.
Auch in der historischen Musterwohnung konnten farbenfrohe
Erstanstriche ermittelt werden. Ihre Räume erstrahlen jetzt wieder im
original-brillanten Blau, Grün, Orange. Der aus der Bauzeit erhaltene
Fußboden besteht aus Holzdielen mit braunem Anstrich. Ausgewählte
Möbelstücke stammen original aus den zwanziger Jahren.
Die Wohnung steht exemplarisch für alle in der Beims-Siedlung. Die
hatten damals schon ein Bad, einen Balkon oder eine Loggia, so ist es
auf vielen historischen Fotos an den Schautafeln und in der Broschüre
zu sehen. Die Aufnahmen stammen mit hoher Wahrscheinlichkeit vom
Bauhäusler Xanti Schawinsky, der das Neue Bauen in Magdeburg
fotografisch begleitete.
„Die neuen Wohnungen sollen die Ansprüche auf Gesundheit, auf
Wohlbefinden, auf Sonne, auf gute Laune, auf gute Kinderspielplätze
und Grünanlagen befriedigen“, war der Anspruch des damaligen
Oberbürgermeisters Beims an das Neue Bauen. Heute, beinahe 100 Jahre später, ist man immer noch beeindruckt von der hervorragenden
bautechnischen und gestalterischen Umsetzung. Auch aus heutiger
Sicht gilt die Hermann-Beims-Siedlung als Muster für „gesundes
Bauen“. Alle Wohnungen sind zweiseitig ausgerichtet, so dass die
Räume hell und gut zu durchlüften sind. Ebenso charakteristisch für
das Neue Bauen sind die vielen grünen Lungen. Seit Anbeginn waren
sie Bestandteil der Siedlungsplanung. Ein Glück für die heutigen
Bewohner, dass der historische Grünzug und die zwei Pappelalleen zu
Teilen erhalten sind, ebenso die Wiesen und Linden anstelle grauer
Hinterhöfe. Ein denkmalpflegerisches Konzept soll den ursprünglichen
Charakter dieser Erholungsbereiche bewahren. Ganz besondere
Bänke gehörten dazu, wie auf den alten Fotos zu sehen ist. Die Bilder
dienen heute als Vorlage, um die Holzbänke mit Wangen aus
Mauerwerk oder Beton zu rekonstruieren. Am Beimsplatz stehen
schon zwei – und ein nach gleichem Prinzip gebauter Einer-Sitz darf in
der Musterwohnung ausprobiert werden. Übrigens: Auf Anfrage kann
auch eine der neu sanierten Wohnungen besichtigt werden.
Wer mehr Lust bekommen hat auf das Magdeburg der Moderne –
etwa im Rotehornpark mit Stadthalle und Albinmüllerturm, in der
Gartenstadt-Kolonie Reform, im OLi-Kino oder in der schrill-bunten
Otto-Richter-Straße – kann stilgerecht übernachten: in der
historischen Gästewohnung Beimsstraße 8 mit zwei Zimmern, Küche,
Bad, Terrasse und Pkw-Stellplatz. Passend zur Architektur der
Hermann-Beims-Siedlung ist auch diese Wohnung im Stil der 1920er
Jahre eingerichtet.
Anfragen / Buchung:
Tel.: 0391/61046-40/28
Foto: Die Treppenaufgänge sind licht und in den charakteristisch
kräftigen Farben gemalert / Copy Kathrain Graubaum