Magersucht-Patientinnen leiden nicht an einer
verzerrten Selbstwahrnehmung, sondern bevorzugen stark untergewichtige Körper
Kognitionsforschung Medizin. Ein interdisziplinäres
Team von Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für biologische Kybernetik,
der Universität Tübingen und des Max-Planck-Instituts für intelligente Systeme
hat Testpersonen vor ihr virtuelles Abbild gestellt und ihre Selbstwahrnehmung
untersucht. Auf diese Weise haben sie erforscht, wie gesunde Frauen und Männer
sowie Magersucht-Patientinnen ihr eigenes Körpergewicht einschätzen. Die
Forschungsergebnisse liefern Erkenntnisse für neue Therapieansätze bei Menschen
mit Essstörungen.
Abbildung: Die von der Teilnehmerin betrachtete
virtuelle Szene (links); Mitte: Die Teilnehmerin betrachtet den
personalisierten Avatar auf einem großformatigen, immersiven Stereodisplay und
ahmt ein Szenario nach, als ob sie vor einem Ganzkörper-Spiegel stehen würde
(rechts).
© MPI f. biologische Kybernetik/ A. Thaler
Die Forscher haben für ihre Studie dreidimensionale
Körpermodelle (Avatar) von über 100 Testpersonen in einem Körperscanner
erstellt. Die Testpersonen konnten dann ihr lebensgroßes virtuelles Selbst auf
einem Bildschirm beobachten und das Gewicht des Avatars mit einem Joypad
verändern. Die Forscher baten die Versuchspersonen, den Körper des Avatars so
im Gewicht anzupassen, bis er ihrem tatsächlichen Gewicht entsprach. Ziel der
Studie war es, zu untersuchen, wie sich die Teilnehmer selbst wahrnehmen:
Schätzen Frauen und Männer ihr Körpergewicht richtig ein? Diese Frage ist
besonders relevant für die Therapie von Essstörungen, die bisher daran ansetzt,
die Überbewertung des eigenen Körperbildes zu therapieren.
Die Wissenschaftler haben so herausgefunden, dass
gesunde Männer und Frauen im Normalgewichtsbereich ihr Körpergewicht entweder
genau eingeschätzen oder leicht unterschätzen. Untergewichtige Frauen unterschätzen
ihr Körpergewicht, während übergewichtige und adipöse Frauen ihr Körpergewicht
überschätzen. Mit anderen Worten, Menschen scheinen ihre
Körpergewichtskategorie genau wahrzunehmen, akzeptierten aber bereitwillig alle
Spiegelbilder als korrekt, die ihrer Gewichtskategorie entsprechen oder sie
sogar übertreiben. Überraschend aber war: Patientinnen mit Magersucht (mit
einem Body-Mass-Index zwischen 12,7 und 18 kg/m²) waren bei der Schätzung ihres
Gewichts genauso treffsicher wie gesunde Frauen.
Unterschied zu bisherigen Studien
Bislang deuteten viele Studien darauf hin, dass
magersüchtige Frauen an einer verzerrten visuellen Selbstwahrnehmung leiden und
sich selbst als zu dick wahrnehmen, obwohl sie in der Regel stark
untergewichtig sind. „Dafür haben wir aber keine Hinweise gefunden", sagt
Katrin Giel, Leiterin der Forschungsgruppe für Psychobiologie des Essverhaltens
von der Universität Tübingen. „Vielmehr haben schlankere Frauen und
Patientinnen mit Magersucht ihr virtuelles Körpergewicht leicht unterschätzt.
Die Abweichungen von den normalgewichtigen Testpersonen waren jedoch sehr
gering."
Die Forscher haben auch untersucht, welches
Körpergewicht die Teilnehmer für wünschenswert halten. Hier waren die
Ergebnisse zwischen Männern, gesunden Frauen und Patientinnen mit Magersucht
unterschiedlich: Normalgewichtige Männer wählten ein gewünschtes Körpergewicht,
das ihrem tatsächlichen Körpergewicht entsprach. Das bedeutet jedoch nicht,
dass sie mit ihrem Körper zufrieden sind, sondern dass andere Faktoren wie Muskulatur
oder Größe für sie relevanter sein könnten als das Gewicht allein. Im Gegensatz
dazu wünschen sich normalgewichtige Frauen einen etwas schlankeren Körper
und/oder ein niedrigeres Gewicht. Aber – und das ist entscheidend – Frauen mit
Magersucht betrachteten stark untergewichtige Körper als ideal.
Untergewicht als Ideal
Die Forscher kommen daher zu dem Schluss, dass
Frauen mit Magersucht eine andere Meinung als Frauen mit Normalgewicht
vertreten, wie ein „attraktiver" Körper auszusehen hat: So empfinden sie
beispielsweise ein Gewicht von 43 Kilogramm bei einer Körpergröße von 1,60
Metern als schön. Einer Frau im gesunden Gewichtsbereich wäre dieses Gewicht
viel zu niedrig. „Wir haben festgestellt, dass Frauen mit Magersucht sich ihres
Aussehens sehr wohl bewusst sind", erklärt Simone Mölbert. „Wir konnten
keinen Unterschied zu gesunden Frauen ausmachen, wie gut sie ihr Gewicht
einschätzen können. Die Patientinnen zeigen aber eine klare Präferenz für stark
untergewichtige Körper." Die Tatsache, dass Frauen mit Magersucht eine
andere Meinung darüber haben, welches Gewicht wünschenswert ist, und nicht eine
verzerrte visuelle Selbstwahrnehmung, sollte daher bei zukünftigen Therapien
für Menschen mit Essstörungen im Vordergrund stehen.
Der Einsatz von virtueller Realität bei der
Erforschung von Körperwahrnehmung hat sich in den letzten Jahren stark
verbreitet. Um zu testen, wie Menschen ihre eigenen Körpermaße wahrnehmen,
haben Forscher zuvor Bilder von den Teilnehmern aufgenommen und diese dann
manipuliert, indem sie diese gedehnt oder gestaucht haben, um so
Körpergewichtsschwankungen zu simulieren. Die Teilnehmer wurden dann gebeten,
das Foto auszuwählen, das ihrer Meinung nach ihr tatsächliches Körpergewicht
zeigt. Dieser Ansatz ist problematisch, da er zu unrealistischen
Körperdeformationen führt, die keine realen Gewichtsveränderungen
widerspiegeln. Die Aufgabe kann daher dadurch gelöst werden, dass die
Patientinnen gestreckte oder gestauchte Bilder identifizieren, ohne unbedingt
die Wahrnehmung des eigenen Körpers zu testen.
Der neue Ansatz verwendet dagegen modernste
Computer-Vision-Techniken, mit der virtuelle 3D-Körper erstellt werden können,
die entweder auf einem Körperscan eines Teilnehmers basieren und somit genau
wie die Person aussehen, oder auf dem durchschnittlichen Körper von einigen
tausend Körperscans. „Um zu testen, wie Menschen ihren Körper wahrnehmen, haben
wir Virtual- Reality-Technologie eingesetzt, weil sie es uns ermöglicht
Szenarien zu erstellen, die reale Situationen nachahmen, wie z.B. vor einer
anderen Person zu stehen oder den eigenen Körper in einem Spiegel in
Lebensgröße zu sehen“, erklärt Anne Thaler. Dieser Ansatz sei viel
realitätsgetreuer als frühere Methoden, bei denen Menschen ihre
Körperdimensionen einschätzten, z.B. indem sie den Versuchsleiter instruierten,
ein Maßband auf die richtige Länge einzustellen. BF/HR
Text- Quelle: MAX-PLANCK-GESELLSCHAFT -
Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme, Stuttgart