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Magersucht 15.04.19 14.10

Gesundheit-News: Magersucht-Patientinnen finden Untergewicht attraktiver

15. April 2019

Magersucht-Patientinnen leiden nicht an einer verzerrten Selbstwahrnehmung, sondern bevorzugen stark untergewichtige Körper

Kognitionsforschung Medizin. Ein interdisziplinäres Team von Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für biologische Kybernetik, der Universität Tübingen und des Max-Planck-Instituts für intelligente Systeme hat Testpersonen vor ihr virtuelles Abbild gestellt und ihre Selbstwahrnehmung untersucht. Auf diese Weise haben sie erforscht, wie gesunde Frauen und Männer sowie Magersucht-Patientinnen ihr eigenes Körpergewicht einschätzen. Die Forschungsergebnisse liefern Erkenntnisse für neue Therapieansätze bei Menschen mit Essstörungen.

Abbildung: Die von der Teilnehmerin betrachtete virtuelle Szene (links); Mitte: Die Teilnehmerin betrachtet den personalisierten Avatar auf einem großformatigen, immersiven Stereodisplay und ahmt ein Szenario nach, als ob sie vor einem Ganzkörper-Spiegel stehen würde (rechts).

© MPI f. biologische Kybernetik/ A. Thaler

Die Forscher haben für ihre Studie dreidimensionale Körpermodelle (Avatar) von über 100 Testpersonen in einem Körperscanner erstellt. Die Testpersonen konnten dann ihr lebensgroßes virtuelles Selbst auf einem Bildschirm beobachten und das Gewicht des Avatars mit einem Joypad verändern. Die Forscher baten die Versuchspersonen, den Körper des Avatars so im Gewicht anzupassen, bis er ihrem tatsächlichen Gewicht entsprach. Ziel der Studie war es, zu untersuchen, wie sich die Teilnehmer selbst wahrnehmen: Schätzen Frauen und Männer ihr Körpergewicht richtig ein? Diese Frage ist besonders relevant für die Therapie von Essstörungen, die bisher daran ansetzt, die Überbewertung des eigenen Körperbildes zu therapieren.

Die Wissenschaftler haben so herausgefunden, dass gesunde Männer und Frauen im Normalgewichtsbereich ihr Körpergewicht entweder genau eingeschätzen oder leicht unterschätzen. Untergewichtige Frauen unterschätzen ihr Körpergewicht, während übergewichtige und adipöse Frauen ihr Körpergewicht überschätzen. Mit anderen Worten, Menschen scheinen ihre Körpergewichtskategorie genau wahrzunehmen, akzeptierten aber bereitwillig alle Spiegelbilder als korrekt, die ihrer Gewichtskategorie entsprechen oder sie sogar übertreiben. Überraschend aber war: Patientinnen mit Magersucht (mit einem Body-Mass-Index zwischen 12,7 und 18 kg/m²) waren bei der Schätzung ihres Gewichts genauso treffsicher wie gesunde Frauen.

Unterschied zu bisherigen Studien

Bislang deuteten viele Studien darauf hin, dass magersüchtige Frauen an einer verzerrten visuellen Selbstwahrnehmung leiden und sich selbst als zu dick wahrnehmen, obwohl sie in der Regel stark untergewichtig sind. „Dafür haben wir aber keine Hinweise gefunden", sagt Katrin Giel, Leiterin der Forschungsgruppe für Psychobiologie des Essverhaltens von der Universität Tübingen. „Vielmehr haben schlankere Frauen und Patientinnen mit Magersucht ihr virtuelles Körpergewicht leicht unterschätzt. Die Abweichungen von den normalgewichtigen Testpersonen waren jedoch sehr gering."

Die Forscher haben auch untersucht, welches Körpergewicht die Teilnehmer für wünschenswert halten. Hier waren die Ergebnisse zwischen Männern, gesunden Frauen und Patientinnen mit Magersucht unterschiedlich: Normalgewichtige Männer wählten ein gewünschtes Körpergewicht, das ihrem tatsächlichen Körpergewicht entsprach. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie mit ihrem Körper zufrieden sind, sondern dass andere Faktoren wie Muskulatur oder Größe für sie relevanter sein könnten als das Gewicht allein. Im Gegensatz dazu wünschen sich normalgewichtige Frauen einen etwas schlankeren Körper und/oder ein niedrigeres Gewicht. Aber – und das ist entscheidend – Frauen mit Magersucht betrachteten stark untergewichtige Körper als ideal.

Untergewicht als Ideal

Die Forscher kommen daher zu dem Schluss, dass Frauen mit Magersucht eine andere Meinung als Frauen mit Normalgewicht vertreten, wie ein „attraktiver" Körper auszusehen hat: So empfinden sie beispielsweise ein Gewicht von 43 Kilogramm bei einer Körpergröße von 1,60 Metern als schön. Einer Frau im gesunden Gewichtsbereich wäre dieses Gewicht viel zu niedrig. „Wir haben festgestellt, dass Frauen mit Magersucht sich ihres Aussehens sehr wohl bewusst sind", erklärt Simone Mölbert. „Wir konnten keinen Unterschied zu gesunden Frauen ausmachen, wie gut sie ihr Gewicht einschätzen können. Die Patientinnen zeigen aber eine klare Präferenz für stark untergewichtige Körper." Die Tatsache, dass Frauen mit Magersucht eine andere Meinung darüber haben, welches Gewicht wünschenswert ist, und nicht eine verzerrte visuelle Selbstwahrnehmung, sollte daher bei zukünftigen Therapien für Menschen mit Essstörungen im Vordergrund stehen.

Der Einsatz von virtueller Realität bei der Erforschung von Körperwahrnehmung hat sich in den letzten Jahren stark verbreitet. Um zu testen, wie Menschen ihre eigenen Körpermaße wahrnehmen, haben Forscher zuvor Bilder von den Teilnehmern aufgenommen und diese dann manipuliert, indem sie diese gedehnt oder gestaucht haben, um so Körpergewichtsschwankungen zu simulieren. Die Teilnehmer wurden dann gebeten, das Foto auszuwählen, das ihrer Meinung nach ihr tatsächliches Körpergewicht zeigt. Dieser Ansatz ist problematisch, da er zu unrealistischen Körperdeformationen führt, die keine realen Gewichtsveränderungen widerspiegeln. Die Aufgabe kann daher dadurch gelöst werden, dass die Patientinnen gestreckte oder gestauchte Bilder identifizieren, ohne unbedingt die Wahrnehmung des eigenen Körpers zu testen.

Der neue Ansatz verwendet dagegen modernste Computer-Vision-Techniken, mit der virtuelle 3D-Körper erstellt werden können, die entweder auf einem Körperscan eines Teilnehmers basieren und somit genau wie die Person aussehen, oder auf dem durchschnittlichen Körper von einigen tausend Körperscans. „Um zu testen, wie Menschen ihren Körper wahrnehmen, haben wir Virtual- Reality-Technologie eingesetzt, weil sie es uns ermöglicht Szenarien zu erstellen, die reale Situationen nachahmen, wie z.B. vor einer anderen Person zu stehen oder den eigenen Körper in einem Spiegel in Lebensgröße zu sehen“, erklärt Anne Thaler. Dieser Ansatz sei viel realitätsgetreuer als frühere Methoden, bei denen Menschen ihre Körperdimensionen einschätzten, z.B. indem sie den Versuchsleiter instruierten, ein Maßband auf die richtige Länge einzustellen.  BF/HR

Text- Quelle: MAX-PLANCK-GESELLSCHAFT - Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme, Stuttgart