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Zehn Jahre UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland – Inklusion mit Hindernissen

Sonntag, den 24. März 2019


Statement vom Magdeburger Behindertenbeauftragten Hans-Peter Pischner 


Am 26. März 2009 ist die die UN-Behindertenrechtskonvention als geltendes Recht für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten. Sie war im Dezember 2006 von der UN-Vollversammlung beschlossen worden und im Nachgang von Bundestag und Bundesrat ratifiziert worden. Ihr Hauptanliegen war und ist die Schaffung "geeigneter Vorkehrungen" für eine uneingeschränkte wirkliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen. Anlässlich des zehnjährigen Jubiläums äußert sich Hans-Peter Pischner, Behindertenbeauftragter der Landeshauptstadt Magdeburg, wie folgt:
 
"Vor zehn Jahren, am 26. März 2009, trat nach der Ratifizierung durch Bundestag und Bundesrat in Kraft. Die Schlüsselbegriffe der UN-BRK sind Inklusion (= uneingeschränkte Teilhabe) und Barrierefreiheit (engl. "accessibility" = Zugänglichkeit, bezogen auf Bauwerke, Verkehrseinrichtungen, technische Systeme und Anlagen, Informations- und Kommunikationsangebote). Zehn Jahre UN-BRK sind eine gute Gelegenheit, eine Zwischenbilanz zu ziehen und nachzufragen, wie es um Inklusion und Barrierefreiheit in der bundesrepublikanischen Realität steht.
 
Durchwachsen, könnte man mit viel gutem Willen sagen…
 
Sicher ist der Begriff Barrierefreiheit inzwischen den meisten interessierten Menschen geläufig. Von einer barrierefrei gestalteten Gesellschaft profitieren nicht nur behinderte Menschen mit Mobilitätseinschränkungen, nein, auch Senior/-innen, Familien mit Kindern, zeitweilig Erkrankte…
 
Bei vielen Fortschritten auf diesem Gebiet muss man aber auch konstatieren, dass gerade im Bereich des ÖPNV noch viel zu tun bleibt. Das in das Personenbeförderungsgesetz aufgenommene ehrgeizige Ziel, bis 2022 den gesamten ÖPNV barrierefrei zu gestalten, liegt jedenfalls in weiter Ferne. Die erforderlichen sehr hohen Aufwendungen sucht man in den Haushalten von Bund und Ländern allerdings vergebens.
 
Nicht nur in den großen Ballungszentren, wo ohnehin Mangel an bezahlbarem Wohnraum herrscht, fehlt es an barrierefreien Wohnungen für Menschen mit Behinderungen, Pflegebedürftige und Senior/innen. Auch hier tut die Politik so gut wie nichts.
 
Sachsen-Anhalts Baurecht sieht den Bau rollstuhlgeeigneter Wohnungen überhaupt nicht vor. Selbst für kleinere kostengünstige Verbesserungsmaßnahmen der Barrierefreiheit ist kaum Geld im Haushalt eingeplant, wenn man von der Förderung des Einbaus von Aufzügen und einem kleinen Zuschussprogramm für den Haltestellenumbau absieht.
 
Inklusion ist zwar weit mehr als nur gemeinsames Lernen von behinderten mit nicht behinderten Schüler/-innen. Der Begriff der Inklusion wird aber häufig vor allem auf das Bildungswesen angewandt, da die UN-BRK den Zugang von behinderten Menschen zum allgemeinen Schulsystem, also zu Grundschulen und weiterführenden Schulen, fordert. Die Bundesrepublik und ganz besonders auch Sachsen-Anhalt hegen und pflegt aber ein Sonderschulsystem, in dem die meisten Schüler/-innen mit Förderbedarf landen, wo sie fernab vom realen Alltag unter sich lernen sollen.
 
Sachsen-Anhalts Bildungsminister Tullner (CDU) erklärte die Inklusion für gescheitert und hält die Aufrechterhaltung der Förderschulen für eine seiner wichtigsten Anliegen. Nun, wen wundert das, wenn es allenthalben an Förderschullehrer/-innen, pädagogischen Mitarbeiter/-innen, barrierefreien Schulgebäuden und auch an der Bereitschaft zur Inklusion mangelt. Stattdessen werden die Lehrer/-innen der allgemeinen Schulen damit allein gelassen und sollen außer Schüler/-innen mit Förderbedarf auch noch die mit Migrationshintergrund fördern.
 
Wie sieht es für Menschen mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt aus? 
 
Einerseits ist die Zahl der arbeitslosen behinderten Menschen aufgrund der guten Konjunktur der letzten Jahre gesunken, wenn auch im geringeren Maß als für Nicht-Behinderte. Das ist gut so, allerdings dürfte sich diese Entwicklung wieder umkehren, wenn die nächste Rezessionsphase eintritt.
 
Anderseits sind viele Menschen mit Behinderungen, chronisch und psychisch Kranke als Arbeitslose im repressiven System von Hartz IV gefangen, mit nur geringen Chancen, aus dieser Lage wieder herauszukommen und gute Stellen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu finden. Hartz IV wurde erfunden, um Druck auf Arbeitslose auszuüben; in der Praxis ist es aber zu einer dauerhaften Falle für behinderte Menschen, Kranke und Ältere geworden…
 
Solange dies so ist, bleibt vielen Betroffenen nur die Beschäftigung in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen, wo sie für geringes Entgelt weit unter Mindestlohn einfache Arbeiten in einer geschützten Umgebung ausführen.
 
Eine Behinderung stellt bis heute ein hohes Armutsrisiko für die Betroffenen und ihre Familien dar und liefert sie häufig auf Dauer den Windmühlenflügeln einer exzessiven Bürokratie von Behörden und Sozialleistungsträgern aus. Eine Behinderung muss man sich eben leisten können, wenn man am Leben wirklich teilhaben will…
 
Und wie steht es mit dem Zugang zu Information, Kommunikation und Medien?
 
Ohne Zweifel hat sich durch die digitalen elektronischen Medien für Menschen mit Behinderungen vieles verbessert. Viele gehören zu den eifrigen Nutzern von Social Media. Die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten wurden zu mehr Barrierefreiheit vor allem für Sinnesbehinderte verpflichtet, von denen sie ja auch Beiträge eintreiben. Die Sender taten sich zunächst schwer, inzwischen ist aber ein hoher Anteil der TV-Angebote zumindest mit Untertiteln für Hörgeschädigte versehen, gelegentlich gibt es auch Sendungen mit Gebärdensprache. Für die Blinden und Sehbehinderten gibt es "Audiodeskription", also eine zusätzliche sprachliche Bildbeschreibung. Allerdings sind nur rund 15 % aller Sendungen auf diese Weise barrierefrei, zum überwiegenden Teil Kriminalfilme und -serien. Pech hat, wer sich nicht nur für Mord und Totschlag interessiert.
 
Während die meisten ARD-Sender sich inzwischen viel Mühe mit der Barrierefreiheit geben, auch der MDR ist hier ganz gut aufgestellt, sieht es beim ZDF deutlich schlechter aus. Das sendet selbst im den Hauptsendezeiten im Abendprogramm viel ohne Audiodeskription. Die privaten Rundfunksender halten sich vornehm zurück und bieten zumeist keinerlei barrierefreie Angebote, warum auch. Sie müssen ja nicht, auch wenn die UN-BRK das eigentlich fordert.
 
Deutschland ist also noch ein ganzes Stück von einer wirklichen Umsetzung der UN-BRK entfernt. Statt selbstbestimmter Teilhabe herrscht vielerorts noch bürokratisches Fürsorgedenken unter Kostenvorbehalt.
 
Was ist zu tun, um die Anforderungen aus der UN-BRK nicht nur "ein bisschen" umzusetzen?
 
Die Politik und die Verwaltung auf allen Ebenen vom Bund bis zu den Kommunen müssen sich dem Thema wirklich stellen, nicht nur in Sonntagsreden oder halbherzig unverbindlich in Koalitionsverträgen. Auch die Betroffenen müssen sich mehr Gehör verschaffen, was leichter gesagt ist als getan. Ihre Vereine, Verbände und Selbsthilfeorganisationen sind derzeit keine starke Lobby. In Parteien, Parlamenten oder Rundfunkräten müssten Menschen mit Behinderungen sichtbarer und zahlenmäßig stärker vertreten sein, immerhin sind sie mehr als 10 % der Bevölkerung. Wir brauchen ein Bekenntnis zu echter Inklusion, die diesen Namen verdient, und Teilhabe ohne Wenn und Aber mit der erforderlichen Hilfe und Assistenz ermöglicht.
 
Nun, es gibt auch den einen oder anderen Lichtblick: Dieser Tage hat beispielsweise das Bundesverfassungsgericht den Wahlrechtsausschluss zehntausender behinderter Menschen und Insassen psychiatrischer Einrichtungen gekippt, 75 Jahre nach der NS-Euthanasie, 25 Jahre nach Aufnahme des Benachteiligungsverbotes für behinderte Menschen in das Grundgesetz und 10 Jahre nach Rechtskraft der UN-Behindertenrechtskonvention…"
 
 
Hintergrund:

Zum Jahresende 2017 lebten in Deutschland mehr als zehn Millionen Menschen mit einer anerkannten Behinderung, darunter 7,8 Millionen Schwerbehinderte. Schwerbehindert sind damit 9,4 % der Bevölkerung. Die Tendenz ist steigend. In Sachsen-Anhalt waren Ende 2018 fast 200.000 anerkannte Schwerbehinderte registriert. Das sind 9,0 % der Bevölkerung, das liegt immer noch deutlich unter dem Bundesdurchschnitt.
 
Von den rund 18.900 Magdeburger Schwerbehinderten sind rund 10.300 in ihrer Mobilität wesentlich beeinträchtigt (Merkzeichen aG und G), grob geschätzt sind mindestens 2.000 von ihnen auf einen Rollstuhl angewiesen. 265 sind blind, 197 gehörlos und fast 5.000 haben Anspruch auf die Mitnahme einer Begleitperson im ÖPNV (Merkzeichen B). Als hilflos gelten mehr als 2.200 Menschen (Merkzeichen H). Fast 2.300 Magdeburger besitzen das Merkzeichen RF und zahlen aufgrund von Seh- oder Hörbehinderung oder schwerer Behinderung einen ermäßigten Rundfunkbeitrag, soweit sie nicht wegen geringen Einkommens ganz befreit werden. 63,5 % der Betroffenen sind bereits 65 Jahre und älter, während nur 2,5 % jünger als 18 Jahre sind. 52 % der Behinderten sind weiblich.
 
Mehr als 9.000 Magdeburger sind pflegebedürftig, Über 3.200 von ihnen werden in mehr als 50 stationären Einrichtungen gepflegt, die übrigen in der Familie oder von ambulanten Pflegediensten.
 
An den beiden Magdeburger Werkstätten für Menschen mit Behinderungen sind fast 1.100 Betroffene beschäftigt. Rund 880 Menschen mit Behinderungen leben in stationären Einrichtungen (Heime bzw. Wohnstätten an den Werkstätten). Nach der Arbeitslosenstatistik der Agentur für Arbeit waren im Dezember 2018 in Magdeburg 367 schwerbehinderte Menschen arbeitslos gemeldet. Das sind 3,6 % der offiziell ausgewiesenen Arbeitslosen. Rund zwei Drittel der behinderten Arbeitssuchenden sind langzeitarbeitslos und beziehen Grundsicherung beim Jobcenter (Hartz IV). Bei der Beschäftigung von Schwerbehinderten ist Sachsen-Anhalt bundesweites Schlusslicht. Die Beschäftigungspflichtigen Unternehmen beschäftigen nur 3,6 % Schwerbehinderte, im Bundesdurchschnitt sind es 4,7 %.
 
In Magdeburg lernen im laufenden Schuljahr 1.091 Förderschülerinnen und -schüler an 10 Förderschulen (67 mehr als im Vorjahr)und 519 Schüler/-innen im gemeinsamen Unterricht. Das ist ein Rückgang von 28 Schüler/-innen, die trotz Beeinträchtigung inklusiv an einer kommunalen Regelschule lernen.