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Die Löffeltorte – Eine Geschichte von Annemarie Stern aus Haldensleben

Haldensleben, 2. Dezember 2018


Vivien löcherte ihre Mutti seit Tagen: „Ich möchte zu meinem Geburtstag auch eine „richtige“ Torte haben! Bitte! Von einem richtigen Konditor, aus einer richtigen Konditorei! Das ist mein einziger Geburtstagswunsch. Bitte, bitte, bitte, liebe Mami! Nicht, dass mir dein selbstgemachter Kuchen nicht schmecken würde, aber bei Paula gibt es immer, zu jedem Geburtstag, eine „richtige“ Schokoladentorte! Und ich möchte auch einmal meinen Gästen eine Geburtstagstorte anbieten, von der sie noch das ganze Jahr schwärmen! Und sie sollen sich alle zehn Finger ablecken, wenn sie nur an meine Geburtstagstorte denken!“ Seufzend gab die Mutti nach. 

Stundenlang zogen die Zwei von einer Konditorei in die nächste. Die allerfeinsten Torten sahen sich die beiden an. Aber an jeder noch so leckeren Torte hatte Vivien etwas auszusetzen. „Ich kann nicht mehr“, stöhnte Viviens Mutter. „Das ist ja schlimmer, als wenn ich mit deiner Tante Lotti schoppen gehe!“ „Bloß noch in die kleine Konditorei am Marktplatz gehen, bitte, bitte! “, bettelte Vivien. „Na gut, aber dann ist endgültig Schluss, dann musst du dich für eine der angeschauten Torten entscheiden“, seufzte ihre Mutti genervt.
Und da, in dem kleinen Café am Markt, stand sie, die Traumtorte! Viviens Herz klopfte bis zum Hals vor Freude. Es war eine Geburtstagstorte, wie Viven sie nie vorher gesehen hatte. Eine weiße Sahnetorte. Und auf jedem Stück thronte stolz ein kleiner Schwan! Er war aus Windbeutelteig gefertigt und mit Sahne gefüllt! Die Schwäne standen auf Krokant, es sah aus, als würden sie schwimmen. Und in der Mitte stand der Schwanenkönig mit einem Krönchen auf seinem Kopf. Himmlisch schön! 

Die Mutti war sehr froh, dass ihre Tochter endlich eine Torte gefunden hatte. „Na, dann werden wir jetzt gleich ein Stückchen probieren. Da werden wir feststellen, ob sie auch so gut schmeckt, wie sie aussieht!“ Schnaufend ließ sich die Mutti auf einen Stuhl fallen, zog unter dem Tisch ihre Schuhe aus und rieb die schmerzenden Füße aneinander. Aber die Torte entschädigte sie für alle ausgestandenen Fußschmerzen. Vivien hatte den Schwan von ihrem Stück Torte runtergenommen und verspeiste ihn als letzte Köstlichkeit. Danach bestellten sie die Torte zu Viviens Geburtstag.

Vivien freute sich riesig auf ihren Geburtstag. Und in der Schule machte sie geheimnisvolle Andeutungen von ihrer außerordentlichen Überraschungstorte. 

Endlich war der Geburtstag gekommen. Am Vormittag holte ihre Mutti die Geburtstagstorte vom Konditormeister ab und stellte sie in den kühlen Keller. Bevor sich am Nachmittag die ersten Gäste ankündigten, hüpfte Vivien glücklich die Kellerstufen hinab. Verzückt sah sie sich die Schwanentorte nochmal an, bevor sie die Torte mit dem Transportbehälter vorsichtig nach oben trug. Auf der Mitte der Treppe macht es ganz zart „KLICK“ und die Schwanentorte fiel auf die Kellertreppe! Sie verteilte sich gleichmäßig über drei Stufen. Vivien schaute ungläubig auf ihre Hand, aber dort baumelte nur das Oberteil des Tortenbehälters, von seiner schweren Last befreit, hin und her. Vivien keuchte, dann erklang ihr schriller, klagender Schrei durchs ganze Haus. Mutti, Vati und die Omi schauten entsetzt auf die Bescherung. Vivien aber schlängelte sich blitzschnell an allen vorbei, lief weinend in ihr Zimmer, schmiss sich auf ihr Bett und schluchzte lautstark in ihr Kopfkissen. Keiner der Anwesenden konnte das unglückliche Geburtstagskind trösten … und die Zeit lief davon. Bald würden die Geburtstagsgäste erscheinen und ihre Freundinnen erwarteten eine ganz und gar ungewöhnliche Geburtstagstorte! Hätte sie nur nicht diese Andeutungen gegenüber ihren Klassenkameradinnen gemacht!

Der Vati setzte sich an ihr Bett und sagte: „Ich habe eine Idee. Aber dazu brauche ich deine Hilfe und es muss vor allem sehr schnell gehen, bevor deine Mutti die Kellertreppe säubert!“ Und er flüsterte seiner Tochter seinen Plan ins Ohr. Die Omi und die Mutti spitzten die Ohren, aber sie verstanden kein Wort. Sie sahen nur, dass Vivien zu weinen aufhörte, verblüfft ihren Vati ansah und plötzlich zaghaft lächelte. Dann gingen die Beiden die Kellerstufen herab. Der Vati holte die ganz große Glasschüssel, zwei Pfannenwender und Suppenlöffel. Dann war durch die geschlossene Kellertür ein fröhliches  Kichern zu hören. Danach erklang durch die Küchentür geschäftiges Treiben. Schränke wurden geöffnet, Schubläden herausgezogen, Geschirr klapperte. Und dazwischen immer wieder das fröhliches Gelächter einer tiefen Bassstimme und das glückliche Lachen Viviens.

Als alle Gäste an dem geschmückten Kaffeetisch saßen, kam Viviens Vati mit einer Schüssel. Er stellte sie feierlich auf den Tisch und sagte: „Das ist die Geburtstagstorte. Es ist eine Löffeltorte! Kennt ihr nicht? Jeder Gast bekommt statt einer Kuchengabel einen langen Eislöffel. Und dann löffelt ihr gemeinsam die Löffeltorte aus der Schüssel auf. Hier sind auch noch Servietten, falls euch mal ein Stück danebenrutscht.“ Gespannt sahen die Kinder die wunderschön verzierte Torte an. Sie war mit Schmetterlingen, Rosen und Herzchen dekoriert, dazwischen lagen bunte Streusel verteilt und in der Mitte thronte der stolze Schwanenkönig. Daneben stellte der Vati auf einen Teller die noch unversehrten Schwäne und in der Mitte prangte die Geburtstagskerze mit einer goldenen 10! 
Glücklich sahen die Eltern den Kindern beim Essen der Löffeltorte zu. Mal ein blonder, ein brauner, ein schwarzer Schopf beugten sich über die Schüssel. Es waren auch mal gleichzeitig zwei Köpfe, dann bekam auch die Nasenspitze etwas ab. Das fröhliche Gelächter und Gekreische war durch das geöffnete Fenster bis auf die Straße zu hören.

Von dem Tag an wollten alle anwesenden Kinder zu ihrem Geburtstag auch eine Löffeltorte haben. Aber in keiner Familie gelang die Löffeltorte so gut, wie zu Viviens Geburtstagsfeier. Paulas Mutter wollte gern das Rezept für die Löffeltorte erfahren. Aber Viviens Mutti sagte nur bedauernd: „Die Torte haben mein Mann und Vivien selbst kreiert. Mich haben sie aus der Küche verbannt!“ Und Vivien hielt ihren Freundinnen gegenüber dicht. 

… Nur mir hat sie die wahre Geschichte von der Löffeltorte verraten!