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Magdeburg: Katja Pähle im Landtag zu 80 Jahren Reichsprogromnacht

Magdeburg, den 24. Oktober 2018


„Jeder konnte sehen, was im November 1938 geschah. Was wir heute sehen, darf nicht zu Verbrechen von morgen führen“

 

 

„Die brennenden Synagogen und die anschließenden Judenverfolgungen waren Verbrechen, die vor aller Augen geschahen.“ Das sagte die SPD-Fraktionsvorsitzende Katja Pähle (Foto) in der heutigen Debatte des Landtags von Sachsen-Anhalt aus Anlass des 80. Jahrestages der sogenannten Reichspogromnacht am 9. November 1938. „Das, was wir heute sehen, darf nicht in Verbrechen von morgen münden. Dafür tragen wir die Verantwortung.“

 

Die Rede im Wortlaut:

 

In Gardelegen im Altmarkkreis Salzwedel entsteht derzeit an der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe ein neues Besucher- und Dokumentationszentrum, das den künftigen Besucherinnen und Besuchern vermitteln wird, welches grauenhafte Verbrechen dort am 13. April 1945 verübt wurde, bei dem über 1.000 Menschen erschossen wurden oder kläglich verbrannten und erstickten. Das neue Dokumentationszentrum wird exemplarisch verdeutlichen, mit welch krimineller Energie noch in der Endphase des Nationalsozialismus, ja noch bis in die letzten Tage und Stunden des NS-Regimes Menschen vernichtet wurden, durch Todesmärsche, Massaker und grausame Hinrichtungen. Meine Fraktion hat sich unlängst vor Ort ein Bild vom Baufortschritt in Gardelegen gemacht; viele von Ihnen haben das ebenfalls getan. Ich bin sehr froh, dass der Erinnerungskultur in unserem Land mit diesem Dokumentationszentrum ein wichtiger weiterer Baustein hinzugefügt wird.

 

Ich erwähne das an dieser Stelle, weil es ein verbindendes Element gibt zwischen dem Beginn des offenen, gewaltsamen Terrors gegen die jüdische Bevölkerung in Deutschland im November 1938 und den nationalsozialistischen „Endzeitverbrechen“ im Frühjahr 1945, zwischen den brennenden Synagogen in der sogenannten „Reichspogromnacht“ und der brennenden Feldscheune Isenschnibbe.

 

Das verbindende Element ist, dass wir in beiden Fällen von Verbrechen reden, die vor aller Augen geschahen. Jeder konnte in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 sehen, in welche Gewalt die Diskriminierung der Jüdinnen und Juden mündete, die zu diesem Zeitpunkt schon mehr als fünf Jahre lang systematisch ausgebaut und verschärft worden war. Jeder musste es sehen.

 

Die brennenden Synagogen, die zerstörten und geplünderten Geschäfte mit jüdischen Inhaberinnen und Inhabern, die danach folgenden Zwangs-„Arisierungen“ im gesamten Reich: Das spielte sich ebenso vor den Augen der übrigen Bevölkerung ab wie später die Deportationen in die Vernichtungslager.

 

Menschen sahen zu, wie verdiente Berufskollegen aus ihren Ämtern entfernt wurden, wie Nachbarn ihres Eigentums beraubt und mit einem „Judenstern“ stigmatisiert wurden, wie Menschen zum  Bahnhof getrieben und in Viehwaggons abtransportiert wurden; aber auch: wie Andersdenkende verschwanden, wie behinderte Angehörige auf rätselhafte Weise zu Tode kamen und zum Schluss, wie KZ-Insassen auf Todesmärschen durch die Städte und Dörfer getrieben wurden, auch nach Gardelegen, wo Anwohner sogar zu Mittätern wurden.

 

Ich sage das nicht, weil ich ein moralisches Urteil über die Menschen fällen will, die damals – meist tatenlos – zusahen. Sondern ich sage das deswegen, weil das, was wir heute sehen, nicht in Verbrechen von morgen münden darf und wir dafür die Verantwortung tragen.

 

Antisemitismus begegnet uns in verschiedenen Formen: als offen sichtbare Judenfeindlichkeit, wie bei den Anschlägen auf Restaurants in Berlin und Chemnitz; als verstecktes Motiv in Verschwörungstheorien aller Art; und die Strukturen des Antisemitismus‘ kehren auch wieder als Muster in anderen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, ob sie sich nun gegen Muslime, gegen Sinti und Roma oder andere richten.

 

Ein Beispiel: An der rechtsextremen Mär vom angeblichen „Austausch“ der einheimischen Bevölkerung durch Migrantinnen und Migranten lässt sich gut ablesen, wie eine Verschwörungstheorie mal mit, mal ohne antisemitisches Gewand daherkommen kann.

 

Wenn es in Ungarn heißt: „George Soros holt die Flüchtlinge ins Land“, heißt es bei uns: „Merkel hat die Grenzen aufgemacht.“ Das Lügenmärchen ist beide Male dasselbe, nur dass in einem Fall das antisemitische Narrativ schon sichtbar ist und im anderen Fall – noch nicht.

 

Fest steht: Wir müssen uns gegen alle Formen von Antisemitismus wenden. Einen harmlosen Antisemitismus gibt es nicht.

 

Und es gibt keinen besseren Weg, ihm entgegenzutreten, als einerseits die Erinnerung an die Shoa wachzuhalten und andererseits aktives, zeitgenössisches jüdisches Glaubens- und Kulturleben in unserer Mitte wachzuhalten. Um beides machen sich Menschen verdient. Ich möchte an dieser Stelle – und ich bin mir sicher, dass ich für die übergroße Mehrheit dieses Hauses spreche – stellvertretend für alle anderen dem Förderverein Neue Synagoge Magdeburg danken, der sich seit Jahren unermüdlich für den Bau eines neuen Gotteshauses stark macht und seinem Ziel jetzt schon sehr nahe gekommen ist. Ganz herzlichen Dank für dieses Engagement!

 

In Gardelegen erlegte der Kommandant der US-Infanterie-Division, die die Stadt befreite, der Bevölkerung die Pflicht auf, die Leichen der Ermordeten zu bergen, sie auf einem Ehrenfriedhof zu bestatten und die Gräber und das Andenken der Toten dauerhaft zu erhalten und zu pflegen. Viele Bürgerinnen und Bürger erfüllen diese moralische Pflicht bis heute. Viele andere im Land tun es ihnen gleich, indem sie aktive Erinnerungsarbeit leisten. Ihr Engagement zu würdigen und zu bestärken, ist das wichtigste Ziel unseres Änderungsantrags.