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POESIE AUS MAGDEBURG ZUM WOCHENENDE

rapunzel

Rapunzel unserer Tage

Rapunzel mit dem langen Haar,
wirf mir herab die Flechten.
Ich harre deiner immerdar,
will schauen nach dem Rechten.
 
Und nach dem Linken schau ich auch,
will sehen, was dort los ist -
das ist seit Monden bei mir Brauch,
weil meine Liebe groß ist.

Rapunzel höret nicht mein Fleh’n,
ich bin schon wie von Sinnen.
Was ist denn nur mit ihr gescheh’n?
Entschwand sie gar von hinnen?

Ach, die Depesche tut’s mir kund:
„Ich wurde endlich munter
und eilte schon zu früher Stund’
von diesem Turm herunter.

Frau Gothel*, die mich zu dem Ort
verschleppt seit ew’gen Tagen,
werde ich bei Gericht sofort
des Kidnappings anklagen!

Verschaffe mir zuerst Gehör,
will ich mich emanzipieren.
Der Zopf ist längst schon beim Frisör,
ich lass’ mich flott frisieren!
 
Leb wohl, mein Prinz, auf Wiederseh’n,
denk’ nicht, dass ich bereue.
Ich werde eigne Wege geh’n,
drum: Such dir eine Neue!“

 
*Zauberin in „Rapunzel“


Helga Schettge
 



Entnommen aus: Blattgold der Bäume. – 2. Aufl. –
Hohenwarsleben: vabaduse.de, 2017. –
ISBN: 978-3-96004-010-5