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ABB SchloegelDassowjetischeJahr 978 3 406 71511 2 3A Cover

Buchtipp: „DAS SOWJETISCHE JAHRHUNDERT – Archäologie einer untergegangenen Welt“

Von Arbeitssklaven, Wiedergeburt durch Umschmiedung, Moskauer Küchen und mehr

Rezension von Uta Luise Zimmermann-Krause


Als ausgewiesener Kenner der untergegangenen sowjetischen Welt führt der große Osteuropa-Historiker Karl Schlögel in seinem jüngsten Buch „Das sowjetische Jahrhundert – Archäologie einer untergegangenen Welt“ an jene obskuren Orte, die nicht nur den stalinistischen Terror aufdecken.  Der Historiker für Osteuropa lehrte Osteuropäische Geschichte an der Universität Konstanz sowie an der Europäischen Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) bis zu seiner Emeritierung. 1982 ging er als Stipendiat des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) an die Lomonossow-Universität Moskau, wo er sich mit der Geschichte der russischen Intelligenzija im 19. und 20. Jahrhundert beschäftigte. 

In seinem Buch beschreibt er die ganze Grausamkeit des Seins in jenen Zeiten des Chaos, hervorgerufen durch Kriege, Bürgerkriege und Revolutionen, bis hin zu den Bolschewiken, die der Meinung waren, es müsse jeder, der etwa Besitz hatte wie ein Haus, ein Ladengeschäft oder einen kleinen Bauernhof, der die Familie ernährte, seine Arbeitskraft per Zwangsverschleppung -  besser auf den aberwitzigen Großbaustellen vertun. Doch hier fehlte die Infrastruktur vollends, so dass sich die Unterkünfte größtenteils in Erdlöchern oder selbsterrichteten Bretterbuden befanden - bei extremen Temperaturen im Sommer und auch im Winter - bis allmählich wesentlich später stadtartige Strukturen durch Plattenbauten entstanden. Was geschah während der „Großen Säuberungen“ in der Stalin-Diktatur? 

Das Buch umfasst gemäß seiner übersichtlichen Gliederung etwa sechzig Einzelstudien wie die Moskauer Basare am Ende der Sowjetunion oder auch die Lubjanka, einem denkwürdigen Ort der finsteren sowjetischen Geschichte. Die Zeit der Wirren war auch die Zeit der Baracholka – ähnlich den Basaren. Getreide war der absolute Wert-Maßstab, sozusagen die harte Währung über die Jahre des Bürgerkrieges. Dem Erziehungsgedanken und dem Prinzip der gerechten Umverteilung und Dezentralisierung von Kulturgütern folgend, sind berühmte Kunstwerke auch nach Samara an der Wolga oder nach Nowosibirsk durch ein Volkskommissariat für Aufklärung auf den Weg gebracht worden. Museen jeder Art spiegeln die unendliche Vielfalt, den Reichtum der russischen bzw. sowjetischen Welt. 

Die Auflösung von Imperien lässt sich als glückliche Katastrophe definieren, aus der stets  Gewinner und Verlierer hervortreten. Spuren des deutschen Vernichtungskrieges auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion bleiben unvergessen: die Stätten des Judenmordes – Babi Jar in Kiew, Botanitscheski Sad in Dnipropetrows, Drobizki Jar und die Traktorenfabrik in Charkow, Odessa und Kamenez Podolski, die Stele im Zentrum von Minsk, wo das Ghetto war, die Gedenkstätten von Rumbula und Bi?ernieki bei Riga, Klooga in Estland – die Orte der Gefangenenlager und Exekutionen von Partisanen, des Massensterbens im eingeschlossenen Leningrad. 

Soweit das Auge reicht: Stelen und Gräber. „Metaphysische Sphinx“ nannte der russisch-amerikanische Bildhauer Michail Shemjakin sein Denkmal für die Opfer der politischen Repressionen in Leningrad/St. Petersburg, das 1995 am Woskresenski-Ufer der Newa gegenüber dem Kresty-Gefängnis errichtet wurde. Kirchen, die von den Bolschewiki und der Gottlosenbewegung entweiht, umfunktioniert in „Museen des wissenschaftlichen Kommunismus“ oder gesprengt wurden, wurden zum Teil wieder rekonstruiert, wie etwa die Kasaner und Isaakskathedrale in Sankt Petersburg. 

Die Inschrift: „Petro Primo Catarina Secunda“, übersetzt „Für Peter den Ersten von Katharina der Zweiten“ ziert den Haupteingang der Isaakskathedrale, der prächtigsten Kirche St. Petersburgs und eines der feinsten architektonischen Bauwerke des französischen Architekten Henri Louis Auguste Ricard de Montferrand, oder die Kasaner Kathedrale. Sie ist ein großer, russisch-orthodoxer Sakralbau am Newski-Prospekt in Sankt Petersburg. Er wurde von 1801 bis 1811 nach dem Vorbild des römischen Petersdoms errichtet und gehört zu den auffälligsten Gebäuden seiner Art. Der Name geht auf eine Ikone vom Typ der Gottesmutter von Kasan zurück, die hier verehrt wird. 

Diese Kunstwerke hatten keinen Platz im Hirn von Bolschewiken – Gott vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun, könnte man meinen! Ganz unverhohlen war in der „Prawda“ vom 31. August 1922 zu lesen, dass die Sowjetregierung zu viel Geduld an den Tag gelegt hat. Jetzt hat sie endlich eine erste Warnung bekannt gegeben: Die aktivsten konterrevolutionären Elemente unter der Professorenschaft, den Ärzten, Agronomen und anderen, hat sie teils ins Ausland, teils in das Gebiet des russischen Norden verbannt. 

Die Zielsetzung war Abschiebung der Kritiker, um sich den Vorwurf der Grausamkeit zu ersparen. Als die Zwangsexilierten in Westeuropa ankamen, bildeten sie bis dahin mit etwa 2 Millionen Menschen die größte Exilgemeinde der neuesten Zeit. Geschichte wiederholt sich, wenn auch unter anderen Vorzeichen, doch dem Wesen nach ist es einerlei, ob der Mauerfall 1989 in Russlands Küchen oder in den Kirchen Deutschlands begann, ganz abgesehen von den Einzimmerwohnungen für ganze Familien in der Sowjetunion oder den untragbaren Toilettenverhältnissen, verbreitete Gorbatschow den Hauch von Freiheit über dem Ostblock und schenkte den Deutschen wieder ein Gesamtdeutschland. 

Karl Schlögel spart nichts aus in seinem Buch „Das sowjetische Jahrhundert – Archäologie einer untergegangenen Welt“, das Erinnerungen und Emotionen freilegt durch die spannungsreiche Schilderung und eigenen Erlebnisse - womöglich auch bei seinen Lesern, die eine Reise in die Vergangenheit suchen.


Karl Schlögel,
912 Seiten, 86 Abbildungen
13,5 x 19,8 cm, gebunden, Hardcover,
Schutzumschlag,
Verlag C.H.Beck, 2017, 
ISBN 978-3-406-71511-2  
Preis: 38,00 EUR