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Buchtipp: "Deutschland - Erinnerungen einer Nation"

Wer die Vergangenheit kennt, kann die Zukunft gestalten 

Rezension von Uta Luise Zimmermann-Krause

Die deutsche Geschichte ist ein Flickenteppich, zerrissen und wieder zusammengefügt, so könnte die Einschätzung lauten. Antworten gibt der der renommierte Autor Neil MacGregor. Er nimmt historisch bedeutsame Objekte in den Focus, die charakteristisch sind für das Wirken deutscher Geschichte und bis heute an Bedeutung nichts verloren haben. MacGregor ist mehrfach Bestsellerautor und seit Oktober 2015 Gründungsintendant des Berliner Humboldt-Forums. In seinem neuen Buch „Deutschland – Erinnerungen einer Nation“, erschienen als Sonderausgabe im Verlag C.H. Beck, lässt er das Szenario deutscher Geschichte mit der Frage beginnen, wo Deutschland eigentlich liegt. Doch spätestens dann wird man feststellen, dass Deutschlands Geschichte auch geografisch gesehen, unvermeidlich fragmentiert ist – gleichermaßen bereichernd wie verwirrend. 

Bis zur Reicheinigung von 1871 gab es nur ein unstetes Gefühl gemeinsamer Interessen. Allerdings gibt es auch kollektive Erinnerungen, was Deutsche erlebt und getan haben. Im Buch werden einige dieser Erinnerungen aufgerufen, es wird einigen prägenden Folgen von Deutschlands heutiger nationaler Identität nachgegangen anhand von Objekten und Bauwerken, von bestimmten Menschen und Orten. Das älteste Objekt ist die Gutenberg-Bibel aus den1450er Jahren, einem Zeitpunkt, an dem Deutschland den Lauf der Weltgeschichte mitbestimmte. 

Als jüngstes Objekt ist das restaurierte Reichstagsgebäude zu nennen, Sitz des Bundestages. Dennoch dürfen die vier großen Traumata nicht verschwiegen werden, die in der nationalen Erinnerung lebendig blieben: Im Dreißigjährigen Krieg (1618-1648), in dessen Kämpfe jeder deutsche Staat verwickelt war neben den Armeen aller großen europäischen Mächte mit schrecklichen Folgen nicht nur für die Bevölkerung, sondern auch für die Wirtschaft. Dem wollte auch Otto von Guericke Einhalt gebieten als Diplomat und Gesandter der Stadt Magdeburg zu den Verhandlungen beim Friedensschluss von Westfalen im Jahr 1448. 

„Deutschland? Aber wo liegt es? Ich weiß das Lad nicht zu finden“, schrieben Goethe und Schiller 1786. Deutschland bestand stets aus vielen politischen Einheiten.    

Nach Beginn der europäischen Revolutionskriege 1792 erlebte Deutschland den Einmarsch der französischen Revolutionsarmee im Rheinland und die Annexion großer Gebiete im Westen. Viele historisch bedeutsame Städte wie Mainz, Aachen, Köln, Magdeburg, fielen an Frankreich und blieben zwei Jahrzehnte unter französischer Flagge im Königreich Westfalen. 1812 hielt die französische Armee vom Rhein bis zur russischen Grenze ganz Deutschland besetzt. Doch der Russlandfeldzug sollte Napoleon etwas anderes lehren. Trotzdem blieb die Erinnerung an die Erniedrigung von 1806 bei Jena und Auerstedt fest im Bewusstsein  der Deutschen und hielt sich über viele Generationen. Doch das verheerendste und hartnäckigste der Traumata war das Dritte Reich. 

Kinderspielzeug zeugt davon, wie weitgreifend das NS-Regime das Alltagsleben infiltriert und vergiftet hat. Traumatisch festgeschrieben sind am Ende auch als letzte Folge des nationalistischen Angriffskrieges der Einmarsch und die Besetzung ganz Deutschlands durch die Alliierten und die langwährende Teilung Deutschlands. Die Teilung verurteilte Ostdeutschland zu weiteren vierzig Jahren Diktatur durch die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands und die Diktatur der Arbeiterklasse, wie es zu dieser Zeit hieß – im Resultat Diktatur und Unterdrückung. Vor fast 30 Jahren fiel die verhasste Mauer, an der zahlreiche Flüchtlinge ihr Leben ließen, und es konnte ein neues Deutschland entstehen. Dennoch gibt es ein kollektives Gedächtnis für die ermordeten Juden, das sich im Holocaust-Denkmal widerspiegelt. 

Auch das Brandenburger Tor, fertiggestellt im Jahr 1791, fußt auf Erfahrungen und spendet weitreichende Assoziationen, die um ein Vielfaches älter sind. Dieses Monument am markanten Standort, hat im Laufe der Geschichte verschiedene Bedeutungen zu Schlüsselereignissen angehäuft. Doch es gibt auch Städte, in denen heute kaum noch Deutsch gesprochen wird: In Prag gründete Kaiser Karl IV. 1348 die erste deutsche Universität. Königsberg, die Heimat des Philosophen Immanuel Kant, der behauptet, dass „Drei Dinge helfen, die Mühseligkeiten des Lebens zu tragen: Die Hoffnung, der Schlaf und das Lachen.“ 
Handel mit Holz und Weizen machte Königsberg reich, und nicht zu vergessen der fossile Bernstein, mit dem ein ganzes Zimmer nobel auskleidet war. 

Das legendäre Bernsteinzimmer gilt als achtes Weltwunder und nach dem Zweiten Weltkrieg als verschollen. Zu nennen sind der Rhein und seine Städte, die, allesamt durch Mythen verbunden, auf eine jahrtausendlange Geschichte zurückblicken. Kriegsgeschehen und friedliche Zeiten wechseln einander ab und tragen zum Flickenteppich deutscher Geschichte bei. Doch verbindend bleibt die deutsche Sprache, das Neuhochdeutsche, dessen frühe Form Luther schuf. Fortlebende Vergangenheit rankt sich um die Kaiser Karl der Große (*742 - †814), Otto der Große (*912 - †973) und etliche, die nach ihnen folgten, bis sich im 19. Jahrhundert die „Eiserne Nation“ auftat. Schmuck, gefertigt aus Eisen, symbolisiert den Widerstand gegen die französischen Invasoren und Besatzer. 

Doch 1945, als der Krieg zu Ende ging, erlebte Europa seine bisher schlimmste Flüchtlingskrise. Dann begann der Neuanfang. Die emotionale und physische Kraft der Trümmerfrauen hat das Land wieder auf die Beine gebracht. 200 000 russische Juden sind nach Deutschland gekommen, nachdem Helmut Kohl ihnen 1990 sofortiges Bleiberecht angeboten hatte, dazu finanzielle Unterstützung und andere Hilfen bei der Integration. Und noch heute zeigt Deutschland sein großes Herz. Wer jedoch mehr wissen möchte zur Geschichte Deutschlands, dem sei diese Sonderausgabe „Deutschland – Erinnerungen einer Nation“ an die Hand empfohlen.

Neil MacGregor. Deutschland – Erinnerungen einer Nation,
640 Seiten, 335 farbigen Abbildungen und  8 Karten
13,5 x 19,8 cm, gebunden, Hardcover
Verlag C.H.Beck, 2017, 
ISBN 978-3-406-71232-6  
Sonderpreis: 25,00 EUR